Para-Schwimmer Josia Topf: „Zum Glück haben sich meine Eltern für die Geburt entschieden, trotz der Diagnose“

Durch seine Erfolge bei den Paralympics in Paris ist Josia Topf zu einem Vorbild geworden. Er hadere oft mit seinem Schicksal, sagt der 21-Jährige, der ein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird, aber er mache das Beste daraus. Besuch bei einem Mann, dessen Wille beeindruckt.

Um sechs Uhr klingelt bei Josia Topf der Wecker. Es ist dunkel, kalt und regnerisch. Das Schwimmtraining im Erlanger Röthelheimbad steht an – und der Para-Schwimmer ist trotz des trüben Dezember-Wetters voller Vorfreude. „Dass ich keine Lust auf Training habe, ist noch nie vorgekommen“, sagt er. „Schwimmen ist meine Leidenschaft, ich habe mich in diesen Sport verliebt. Und Wasser bedeutet für mich Freiheit – Freiheit, die ich an Land nicht habe.“

Topf hat von Geburt an das TAR-Syndrom mit Dysmelie und Aplasie beider Kniegelenke. Er hat keine Arme, die Hände sind an der Schulter angewachsen, dazu mit einem Knorpelschaden versehen. Die Kniegelenke fehlen, seine Beine sind verkürzt, unterschiedlich lang und versteift. Ein Leben lang ist Topf auf Hilfe angewiesen. Beim Anziehen, Duschen, Haareföhnen, Zähneputzen, Essen, Schreiben, Auf-die-Toilette-Gehen. Also fast immer. Mutter Wiebke ist sein ständiger Wegbegleiter.

„Ich hadere oft mit meinem Schicksal, weil ich täglich merke, wie einfach mein Leben sein könnte, wenn ich nicht behindert wäre“, sagt Topf. „Aber ich bin trotzdem dankbar für das Leben, das ich habe. Ich würde es auf keinen Fall verpassen wollen. Zum Glück haben sich meine Eltern damals für meine Geburt entschieden, trotz der Diagnose.“

Den Namen Josia wählten sie bewusst. „Das bedeutet im Hebräischen: Gott heilt, Gott unterstützt“, erklärt Topf. „Meine Eltern wollten mir eine positive Botschaft mit auf den Weg geben.“

„Ich fühle mich nicht als kleiner, verwundbarer Mensch“

Im Wasser blüht Topf auf. Da braucht er keine Hilfe. Kraft holt er aus dem Rumpf: „Ich kann Purzelbäume und Salti machen, den Puls auf 180 jagen, mich frei bewegen. Im Wasser bin ich unabhängig.“ Und erfolgreich. Bei den Paralympics in Paris gewann Topf den kompletten Medaillensatz: Gold über 150 Meter Lagen, Silber über 50 Meter Rücken, Bronze über 50 Meter Freistil.

Mit seiner Lebenseinstellung und der Bereitschaft, Hürden zu überwinden, ist er ein Vorbild und eine Inspiration für andere. „Mein Motto ist: Geht nicht, gibt’s nicht, sofern man eine echte Leidenschaft für das hat, was man tut“, sagt er. „Mein Körper ist behindert, aber nicht meine Persönlichkeit. Ich bin zwar nur 1,50 Meter groß, fühle mich aber oft wie 1,90 Meter. Wenn ich in einen Raum komme, sage ich laut Hallo. Nach dem Motto: Hier bin ich! Andere in meiner Situation würden eher reinschleichen. Aber ich fühle mich nicht als kleiner, verwundbarer Mensch.“

Die Paralympics in Paris steigerten dieses Gefühl: „Dort gab es ein echtes Wir-Gefühl unter uns Sportlern. Wir alle hätten einen guten Grund, uns in die Ecke zu setzen, herumzuheulen und uns über das unfaire Leben zu beklagen. Aber wir tun genau das Gegenteil, legen noch eine Schippe drauf.“

Hätte Topf die Wahl gehabt, wäre er am liebsten Tennisspieler geworden: „Ich bewundere Novak Djokovic wegen seiner unzerstörbaren Art.“ Auch Topf hat sich eine Härte angeeignet, die ihm im Wettkampf hilft: „Ich wurde früh mit verschiedenen Realitäten konfrontiert, die mich aus der kindlichen Blase herausgerissen haben. Ich musste früher und schneller erwachsen werden als manch anderer.“

Kopfschmerzen vom Zielanschlag – Topfs Kampf mit dem IPC

Das Training im Röthelheimbad läuft. Topf will auf den Startblock steigen und braucht dafür die Hilfe von Trainerin Anna Pfretzschner. „Anna, du musst mich halten, ich bin schwerbehindert“, ruft er und lacht. Als ob sie das nicht wüsste.

Topf schwimmt Bahn um Bahn und wechselt jedes Mal seine Position: Bauchlage für Delfin, Rückenlage für Rücken, Seitenlage für Kraul. Die ideale Körperhaltung im Wasser und Renneinteilung sind Dinge, an denen er arbeitet, um weitere Sekunden herauszuholen: „Die WM im nächsten Jahr in Singapur ist mein nächster Höhepunkt. Und auch die nächsten Paralympics 2028 in Los Angeles sind schon in meinem Hinterkopf.“

Topfs Erfolge in Paris wurden auch möglich, weil seine Startklasse S 3 sich verändert hat. 2021 in Tokio musste er noch gegen Gegner schwimmen, die Arme hatten und körperlich klar im Vorteil waren: „Jetzt sind wir eine homogenere Gruppe und liegen bei den Zeiten nah beieinander. Es gibt einen fairen und sportlich interessanten Wettkampf.“

Bei einem anderen Thema dauert der Kampf mit dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) an: dem Zielanschlag. Da er keine Arme hat, kracht Topf immer mit dem Kopf gegen den Beckenrand, um den Sensor in der Anschlagmatte auszulösen und die Uhr zu stoppen. Mit gefährlichen Folgen. „Ich habe oft tagelang Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Gedächtnislücken“, sagt Topf. „Manchmal sind da richtige schwarze Löcher.“

Der Antrag, ein Gummipolster von einem halben bis einen Zentimeter Dicke in die Badekappe stecken zu dürfen, wurde abgelehnt. Offizielle Begründung: Die Körpergröße würde künstlich erhöht. „Im gleichen Atemzug wurden auch noch Haardutts verboten“, sagt Topf. Verständnis hat er dafür nicht: „Wir kämpfen weiter für eine Regeländerung, der Deutsche Behindertensport-Verband DBS unterstützt uns. Man könnte ja auch etwas in der Wand anbringen, was den Aufprall dämpft. Aber die einfachste Lösung wäre ein Polster in der Kappe.“

In Vorläufen, wenn Topf gut im Rennen liegt, nimmt er auf den letzten Metern ganz bewusst Tempo raus, um den Anschlag zu mildern: „Im Finale, wenn jede Zehntelsekunde zählt, geht das nicht.“ Sogar auf der Straße wird er auf das Thema angesprochen. „Schlimm, dass Sie immer mit dem Kopf anschlagen müssen“, sagt eine Frau, als das Training beendet ist.

Topf stemmt mit seiner Hüfte 100 Kilo hoch

Nach Hause fahren kann Josia Topf allein – in seinem umgebauten Auto. Mit zwei Joysticks steuert er das Fahrzeug: links lenkt er, rechts beschleunigt und bremst er. Den Blinker setzt er per Sprachsteuerung. „Ein ganz wichtiges Hilfsmittel für mehr Selbstständigkeit“, sagt Topf. Die Umbaukosten beliefen sich auf eine höhere fünfstellige Summe, das Auto ist eine Spezialanfertigung. Einen Teil davon finanzierte Topf über Spenden.

Zu Hause isst Topf zwei Nutella-Toasts, dann beginnt das Trockentraining. In seinem Zimmer steht ein Fitnesskäfig, in dem er Rumpftraining macht. Mit seiner Hüfte stemmt er dabei 100 Kilo hoch. Vater Hans-Georg, ein Kinderarzt, hilft bei der Übung und führt das Gewicht. Am Nachmittag geht Topf zur nahe gelegenen Universität. An der FAU Erlangen studiert er im sechsten Semester Jura. Derzeit befasst er sich mit Strafrecht. Einer Schreibhilfe, bezahlt vom Bezirk Mittelfranken, diktiert er seine Texte und die Klausuren.

Die Sporthilfe und Stiftungen unterstützen Topf finanziell. Sein Verein, die SSG 81 Erlangen, übernimmt Kosten für Trainingslager. Die Olympiastützpunkte Bayern und Potsdam stellen Physiotherapeuten und Mentoren zur Verfügung. „Rücklagen kann ich keine bilden“, sagt Topf. Umso willkommener sind die 20.000 Euro Prämie, die er für sein Gold in Paris bekommt. „Die werde ich für meinen Alltag nutzen. Eine Behinderung ist ganz schön kostspielig“, sagt er. „Vielleicht gönne ich mir auch eine Flugreise – im Flugzeug muss es die erste Reihe sein, weil ich nur dort genug Platz für meine steifen Beine habe. Deshalb kann ich nur Business fliegen, das ist deutlich teurer.“

Karriere als Anwalt und ein Weingut

Im Alltag wünscht sich Topf mehr Verständnis für Behinderte. Ein Beispiel: „Ich verstehe die Holzspäne auf dem Boden von Weihnachtsmärkten nicht – das erschwert es Rollstuhlfahrern ungemein, am Weihnachtsmarkt teilzunehmen.“

Träume hat Topf reichlich. „Ich möchte als Anwalt Karriere machen und eines Tages ein Weingut in Italien haben. Und ich habe meiner Mutter gesagt, sie soll meine Playmobilfiguren von früher aufbewahren – für den Fall der Fälle, dass ich selbst mal ein Kind haben werde.“

Es wird dunkel, das Nachmittagstraining im Schwimmbad beginnt. Mit dem Kopf voraus springt Topf ins Wasser. Es könnte nichts Schöneres geben für ihn.

Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) geführt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.