
Sie ist wieder da – und so beliebt wie vielleicht nie zuvor: die Kufiya. Und das Stück Stoff, für das sich lange Begriffe wie Pali-Tuch oder Arafat-Schal eingebürgert hatten, sorgt für heftige Reaktionen. Als Zeichen der Solidarität, als nationales Symbol, als Wunsch nach Land und Frieden betrachten es die einen. Als einschüchternd und als Zeichen der Terrorunterstützung sehen es die anderen.
Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker fordert nun sogar, das Tragen des traditionellen palästinensischen Tuchs in der Öffentlichkeit zu verbieten. „Mit der Kufiya wird der Terror verherrlicht, und Terroristen werden damit als Freiheitskämpfer verharmlost“, sagt der CDU-Politiker.
Das Comeback der Kufiya entzweit. Tatsächlich gibt es wohl kein Kleidungsstück, über das derzeit leidenschaftlicher gestritten wird. Auch im Alltag erblickt man das Tuch immer häufiger, etwa auf dem Campus der Frankfurter Goethe-Universität oder auf der Einkaufsmeile Zeil. Vor allem aber wird es bei Demonstrationen und Mahnwachen getragen. Bei der umstrittenen „United 4 Gaza“-Kundgebung Ende August in Frankfurt, bei der gut Zehntausend gegen den Krieg im Nahen Osten und Deutschlands Unterstützung für Israel protestiert haben, hatte sich beinahe jeder Zweite eine Kufiya umgelegt. Genauso entdeckt man sie natürlich auch in den sozialen Medien, als Instagram-Accessoire. Dass der Palästinenserschal – mal wieder – eine Renaissance erfährt, ist unübersehbar.
In der Wüste gibt die Kufiya Schutz
Die Kufiya ist mit Bedeutung heute geradezu überfrachtet. Das war allerdings nicht immer so. Anfangs war sie vor allem ein praktisches, schützendes Kleidungsstück, ein probates Mittel gegen Sand und Wüstenwind. In der osmanischen Zeit war das Tuch deshalb vor allem die Kopfbedeckung der Beduinen. Ob es damals auch schon innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung verbreitet war, darüber streitet die Wissenschaft.
Getragen wurde es später auch von Juden: Unter den jüdischen Einwanderern, die im späten 19. Jahrhundert nach Palästina aufgebrochen waren, war die Kufiya enorm beliebt. Als jedoch die Spannungen zwischen ihnen und der arabischen Bevölkerung immer mehr zunahmen, legten die meisten jüdischen Emigranten sie bald wieder ab.
Zu einem politischen Zeichen, zu einem aufgeladenen Symbol, wurde sie erstmals während des arabischen Aufstands. Zwischen 1936 und 1939 rebellierten die wirtschaftlich unter Druck geratenen Araber gegen die britische Mandatsmacht und die jüdische Bevölkerung in Palästina. Und die Kufiya wurde zur Uniform der Aufständischen. Das Tuch diente ihnen zur Vermummung und damit zum Schutz vor Verfolgung.
Jassir Arafat machte das Tuch weltweit populär
Schon bald setzte eine Form der Solidarisierung ein: Nicht nur die Kämpfer, sondern auch die mit ihnen sympathisierende Mittelschicht griff nun zur Kufiya, das Stück Stoff entwickelte sich zu einem Nationalsymbol. In den Städten hatte man davor lange den osmanischen Tarbusch (besser bekannt unter dem Namen Fes) als Kopfbedeckung bevorzugt, mit dem gewalttätigen Aufstand gegen Besatzungsmacht und jüdische Emigranten machte die Kufiya ihm nun aber Konkurrenz.

Noch populärer wurde das schwarz-weiße Tuch in den Siebzigerjahren. Auch damals kämpften Palästinenser mit Gewalt gegen Israel und um einen eigenen Staat. Jassir Arafat, seit 1969 Anführer der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, machte die Kufiya damals zu einem weltweit bekannten Symbol. 1974 hielt er mit dem Tuch auf dem Kopf eine Rede vor der Generalversammlung der UNO. Die Kämpfer seiner Fatah trugen wie er selbst das schwarz-weiße Tuch, die militanten Anhänger der weiter links stehenden PFLP, der Volksfront zur Befreiung Palästinas, eine rot-weiße Kufiya.
Und dann war da noch die PFLP-Terroristin Leila Chaled, 1969 und 1970 beteiligt an zwei Flugzeugentführungen. Die von radikalen Linken als „Hijack Queen“ vergötterte Chaled trug die Kufiya zum Kopftuch gebunden und machte sie so auch als Kleidungsstück für Frauen populär. Ein berühmtes Foto von ihr, das sie mit Kufiya und Kalaschnikow posierend zeigt, ist auch heute wieder auf vielen Palästina-Demonstrationen zu sehen. Die Terroristin wurde zur Popikone.
Die Kufiya wird zum Symbol des „Radical Chic“
Und ganz ähnlich erging es auch dem Palästinensertuch. In linken Kreisen wurde die Kufiya immer beliebter, rasch eroberte das Accessoire auch den westlichen Teil der Erdkugel, entwickelte sich zum Must-have in alternativen Jugendzentren und an Universitäten von Frankfurt bis Berkeley. Einher ging damit aber auch eine Bedeutungsverschiebung: Aus dem palästinensischen Nationalsymbol wurde bald ein diffuses Zeichen des Dagegenseins. Seine Wurzeln im Nahen Osten verloren an Wichtigkeit, die Kufiya entwickelte sich zu einem von vielen Symbolen des „Radical Chic“ – neben dem roten Stern der RAF-Terroristen oder dem ikonischen Porträt von Che Guevara.
So dürfte wohl auch kaum einer der damaligen Träger überhaupt gewusst haben, wofür die Zeichen im Muster der Kufiya stehen: dass das Fischernetz die Verbundenheit der Palästinenser mit dem Meer symbolisiert, die breite Linie auf dem Tuch für die Handelsrouten durch Palästina steht und die Olivenblätter Kraft und Ausdauer ausdrücken sollen.

Noch beliebiger wurde die Aneignung in den Jahren nach der Jahrtausendwende: Damals entdeckte die Modeindustrie das traditionelle Tuch für sich – und „entpolitisierte“ es. Karl Lagerfeld entwarf für Chanel eine Jacke mit Kufiya-Muster, auch die Nobelmarken Balenciaga und Givenchy oder das Hipster-Label Lala Berlin griffen das Motiv in Entwürfen auf. Hollywood-Star Johnny Depp trug es – und Sarah Jessica Parker in der Rolle der Carrie Bradshow in „Sex and the City“.
Auch unter Neonazis war das Tuch populär
Doch der laxe Umgang mit dem palästinensischen Tuch kam auch damals nicht immer gut an. Das amerikanische Modelabel Urban Outfitters nahm einen Schal schnell wieder vom Markt, nachdem es zu Protesten gekommen war. Die spanische Marke Zara erlebte einen Shitstorm, als sie eine Kufiya-Short in die Läden brachte. Auch sie sorgte dafür, dass das Kleidungsstück bald wieder verschwand.
Untragbar wurde das Tuch für viele schließlich, als es in Neonazi-Kreisen attraktiv wurde. In der Subkultur der „autonomen Nationalisten“ wurde die Kufiya zum Code für Judenhass. Und auch in der Querdenker-Szene, in der antisemitische Verschwörungsmythen weit verbreitet sind, wickeln sich nicht wenige das Tuch gern um den Hals.
Palästinensisch übrigens ist die Kufiya heute nur noch selten, sondern meistens „made in China“. Nur in Hebron im Westjordanland gibt es noch eine Fabrik, in der das Tuch produziert wird: die bekannte Manufaktur der Familie Hirbawi. Unternehmensgründer Yasser Hirbawi eröffnete seine Weberei 1961, mittlerweile wird sie von seinen Söhnen geführt. Mehrmals schon stand die Fabrik vor dem Aus, der Konkurrenzdruck ist hoch, die israelische Besetzung des Westjordanlands macht den Export schwer. Gefragt sind die Hirbawi-Tücher trotzdem sehr. Derzeit ist die Kollektion der Weberei aus Hebron komplett ausverkauft – auch das ist ein deutliches Zeichen für den neuen Kufiya-Boom.
Ist die Kufiya ein Terrorsymbol?
Wer das Tuch in diesen Tagen trägt, für den ist es mehr als ein modisches Accessoire. Der Palästina-Bewegung, die gegen den Krieg in Gaza protestiert, verdankt die Kufiya ihr außergewöhnliches Comeback. Dieser Bewegung verdankt sie aber auch ihren zweifelhaften Ruf. Denn die Grenzen zwischen Entsetzen über Israels brutalen Krieg und Sympathie für den Terror von Hamas und anderen islamistischen Gruppen sind in der Protestbewegung mehr als durchlässig. Wer „Intifada“ brüllt oder den 7. Oktober als „legitimen Widerstand“ preist, ist an einem gerechten Frieden im Nahen Osten nicht wirklich interessiert. Und deshalb sieht heute nicht nur der hessische Antisemitismusbeauftragte Becker den Palästinenserschal nicht als Friedens-, sondern als Terrorsymbol.
Dabei schießen die Kritiker gelegentlich aber auch übers Ziel hinaus. So wird in der proisraelischen Szene gern behauptet, der Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, habe die Araber in den Dreißigerjahren, zur Zeit des Aufstands gegen Briten und jüdische Einwanderer, dazu gezwungen, die Kufiya zu tragen. Wer sich weigerte, sei gefoltert oder getötet worden.

Al-Husseini war ohne Zweifel ein exzessiver Judenhasser, der mit Nazideutschland gemeinsame Sache machte und Hitler bewunderte. Dass er allein die Palästinenser zwang, die Kufiya zu tragen, dürfte dennoch eine Legende sein. In einem Beitrag für die F.A.Z. hat der Historiker Joseph Ben Prestel darauf hingewiesen, dass es keine historische Quelle gibt, die diese Behauptung stützt. Außerdem sei der Mufti, als die Popularisierung der Kufiya einsetzte, „nur einer und nicht der Anführer des Aufstands“ gewesen.
Lehrer wollen Kufiya-Verbote durchsetzen
Die Ablehnung der Kufiya nimmt auch im Alltag manchmal absurde Formen an. So beklagten linke Klimaaktivisten, die im August an einem „System Change Camp“ im Frankfurter Grüneburgpark teilnahmen, dass ihnen von Passanten die palästinensischen Tücher vom Leib gerissen wurden.
Berichtet wird auch von Lehrern, die ihren Schülern das Tragen der Kufiya verbieten wollten. Aus pädagogischer Sicht ist das ein falscher Weg. Statt mit Ablehnung und Verboten zu reagieren, sollten Lehrer in einen Dialog mit ihren Schülern treten – in dem sie ihr Unbehagen gegenüber dem Kleidungsstück dann natürlich auch erklären können. Wer Vorurteilen und weit verbreiteten Fake News etwas entgegensetzen will, kommt um solche Gespräche gewiss nicht herum.
Unehrlich sind aber auch diejenigen, die die Kufiya zu einem harmlosen Friedenssymbol erklären, die so tun, als bestünde zur Gewalt der Terroristen keine Verbindung. Manchmal sieht man auf den propalästinensischen Demonstrationen heute auch Tücher, in die ein Band mit Palästina-Fahnen eingewebt wurde. Was dabei sofort ins Auge sticht, sind die roten Dreiecke. Sie sind ein Symbol der Hamas: In Videos der islamistischen Terrororganisation wird das Dreiecksymbol genutzt, um damit Feinde zu markieren. Und dass sich ein neuer Zusammenschluss linksextremer Israelfeinde ausgerechnet Kufiya-Netzwerk nennt, ist ebenfalls alles andere als Zufall.
Ein eindeutiges Urteil über das Tuch und seine Träger zu fällen, ist deshalb kaum möglich. Denn die Beweggründe, warum es sich jemand um den Hals knotet, können stark differieren. Mit der Kufiya ist es so wie meistens im Leben: Es bleibt kompliziert.