
Alaa Abujami schläft nicht gerne und nicht gut. Auch ohne Wecker wacht er jeden Morgen um halb sechs auf, mit Tränen in den Augen, wie er sagt. Dann kommt die Angst. Sofort greift er nach dem Telefon auf seinem Nachttisch, öffnet Telegram und tippt „Abujami“ in die Suchleiste, um zu sehen, ob sein Familienname in einem der vielen Newskanäle auftaucht. Ob der Name in einer Nachricht zu Toten oder Verletzten erwähnt wird. Schlafen bedeutet offline sein – Stunden, in denen möglicherweise seine Schwestern und ihre Kinder im Gazastreifen gestorben sind. Eigentlich rechnet er jede Minute damit.
Alaa Abujami kommt aus dem Gazastreifen. In Deutschland leben geschätzt 175.000 bis 225.000 Palästinenser. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt, da das Ausländerzentralregister die Staatsangehörigkeiten von Personen speichert, nicht aber ihre Volkszugehörigkeit. Abujami lebt seit über zehn Jahren in Deutschland, hat hier BWL studiert. Er wohnt in Frankfurt, in seiner Freizeit spielt der 30 Jahre alte Mann gerne Volleyball, die Urlaube verbringt er mit seiner Frau auf Reisen in Europa. Seinen Job als Netzwerkadministrator bei einem großen Unternehmen bezeichnet er als „sein Hobby“.
Familienbilder aus Gaza
Mit dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat sich für ihn alles geändert. Mehr als 1200 Menschen wurden getötet, viele verschleppt. Die israelische Offensive im Gazastreifen forderte seither laut UN zahlreiche zivile Opfer. Gleichgeblieben ist für Abujami seitdem nur sein Job. Doch die acht Stunden dort machten nur noch den Bruchteil seiner Arbeit aus. In der restlichen wachen Zeit versucht er, über das Wohlergehen seiner Familie im Gazastreifen zu wachen. Mit dieser Belastung ist er nicht allein. Vielen seiner palästinensischen Bekannten geht es ähnlich.
Alaa Abujami hat lange überlegt, ob er in der Zeitung mit seinem richtigen Namen genannt werden möchte. Da war die Hoffnung, dass mehr Aufmerksamkeit seiner Familie helfen könnte, aber auch die Angst, die Verwandten oder sich selbst zu gefährden. Am Ende entschied er sich gegen ein Pseudonym. Er sagt: Er möchte einfach nur Frieden und dass es seinen Verwandten im Gazastreifen wieder gut geht.
Abujami arbeitet in seinem IT-Job und versucht, irgendwie seinen Verwandten zu helfen. Alles aus seinem Wohnzimmer in Griesheim, einer ruhigen Gegend. Zusammen mit seiner Frau wohnt er dort in einer Zweizimmerwohnung. An der Wand hängen Familienbilder, weiß eingerahmt. Eins zeigt Alaa Abujami am Strand, er hat die Hände in die Luft gerissen, im Hintergrund rollen die Wellen. Aufgenommen ist es am Strand von Gaza, Alaa Abujami ist dort im Oktober 2023 zu Besuch, das erste Mal, seit er fortgegangen ist. Nur Stunden später überfällt die Hamas Israel.
Aufgewachsen ist Abujami im Gazastreifen in der Stadt Khan Yunis. Bildung habe dort einen hohen Wert gehabt. Seine Mutter, eine Ärztin, unterrichtete zeitweise auch andere Kinder, brachte ihnen Englisch, Chemie oder Mathematik bei. Sein Vater war zwanzig Jahre Polizist bei der Palästinensische Autonomiebehörde. Als die Hamas 2007 die Macht übernahm, weigerte er sich, für sie zu arbeiten, ging in Rente, so erzählt es Abujami. Die Familie habe bewusst Gewalt abgelehnt und sich weitgehend zurückgezogen.
Vater, Mutter und Brüder sind tot
Mit 19 Jahren zog er zum BWL-Studium nach Frankfurt. Hier gilt er als Staatenloser. 2023 entschied er sich, zum ersten Mal seit vielen Jahren seine Familie zu besuchen. Kein leichtes Unterfangen, zunächst musste er nach Ägypten fliegen und von dort aus mit einem Bus über die Grenze. Wenige Tage nach seiner Ankunft begann der Krieg. „Es war alles wie im Schock“, erinnert sich Abujami.
Nur weil Abujamis Ehefrau tschechische Staatsbürgerin ist, wurde er durch die tschechische Botschaft wenige Monate nach Kriegsbeginn evakuiert. Zurück blieben seine Mutter, sein Vater, zwei Brüder und zwei Schwestern. Eine ist schwanger, um sie sorgt sich Abujami besonders. Die dritte Schwester studiert Medizin in Ägypten. Vater, Mutter und die Brüder seien inzwischen tot. Am 10. August 2024 habe ihn seine Tante aus Schweden angerufen und gesagt, dass das Haus und seine Eltern von einer Rakete getroffen worden seien. Noch heute bleibt ihm beim Erzählen von diesem Tag die Stimme weg.
Von September bis Dezember 2024 hat Abujami nach eigenen Angaben mehr als 13.000 Euro an seine Familie in den Gazastreifen geschickt. Von Frankfurt aus koordinierte er Bauarbeiten, um die Leichen seiner Eltern unter den Trümmern des Hauses hervorzuholen und zu beerdigen.
Abujami lebt in Sicherheit. Er hat einen gut bezahlten Job. Er kocht sich in den Mittagspausen etwas zu Essen, frisches Gemüse gibt es genug. Doch die Situation, in der seine Familie im Gazastreifen ist, beeinflusst auch sein Leben in Frankfurt. Das einzige, was er von Ferne tun kann, ist Kontakt halten, Geld schicken und auf die Situation aufmerksam machen.
Die Anrufe sind eine Herausforderung
Um kurz vor drei sei er meist durch mit der Arbeit und sein „zweiter Dienst“ beginnt. Auf einem Bildschirm öffne er dann seine Infokanäle aus Gaza. Sechs Fenster gleichzeitig: BBC, Al Jazeera, Telegram, israelische Fernsehkanäle, so erzählt er es. Ein Telegramkanal aus seiner Gegend listet jede Woche die Verstorbenen aus dem Osten von Khan Yunis auf. Manche dieser Menschen kennt Alaa Abujami aus seiner Kindheit, die Nachbarschaft sei sehr eng vernetzt gewesen. Unabhängige Informationen zu bekommen ist schwer. Bis heute gewährt Israel westlichen Journalisten nicht die Einreise ohne Begleitung in den Gazastreifen, viele palästinensische Journalisten wurden getötet, und die Hamas kontrolliert lokale Behörden.
So oft es geht, versucht Abujami mit seiner Schwester in Gaza zu telefonieren. Eine Herausforderung. Die Internetversorgung ist oft unterbrochen, das Netz gestört. Um seine Verwandten zu erreichen, verwendet Alaa Abujami Voice-over-IP-Anrufe. Für seine Familie wirkt es dann manchmal so, als ob er aus Italien anrufen würde oder an anderen Tagen aus Bulgarien. Seine Familie wiederum versucht, mit dem Handy so nah wie möglich an die Grenze zu kommen und entweder über das israelische oder das ägyptische Netz zu telefonieren. Dafür verwenden sie eSIMs.
Gerade versucht Abujami, irgendwie Geld in den Gazastreifen zu überweisen. Früher hat er das über einen Freund mit israelischem PayPal-Account geschickt, doch dieser sei nun gesperrt. Seine Hoffnung setzt er auf einen Freund, der auch in Deutschland wohnt, aber noch einmal im Monat Geld überweisen könne. An manchen Nachmittagen rufe er an die 15 Freunde und Bekannte an, um Hilfe für seine Liebsten zu organisieren.
Ablenkung im Fitnessstudio
Im Gegenzug schickt er seinen Bekannten Vorlagen für Mails an Mitglieder des Bundestages, gibt ihnen Tipps, wie sie respektvoll auf Absagen reagieren, oder wo sie noch mal nachhaken können. Damit hat er selbst einige Erfahrung. Mehrmals habe er an den Petitionsausschuss des Bundestages geschrieben, er ist außerdem mit dem Büro der Frankfurter Abgeordneten Deborah Düring in Kontakt. So hat Alaa Abujami immer wieder versucht, Hilfe bei der Evakuierung seiner Familie zu bekommen, vor allem für die schwangere Schwester. Da er allerdings kein deutscher Staatsangehöriger ist und Schwestern nicht zur Kernfamilie gehören (sondern nur Kinder und Ehepartner), hat er bisher nur verständnisvolle Absagen erhalten. Es gab Versuche, ihn an die WHO weiterzuvermitteln für eine Evakuierung aus medizinischen Gründen. Bisher ohne Erfolg.
Aufgeben wird Alaa Abujami nicht, er sagt, das bedeute den Tod für die anderen. Anfangs habe er viel mit seiner Frau über seine Sorgen geredet. Jetzt versuche er, manches vor ihr zu verbergen. „Ich will auch irgendwann Kinder, und ich will, dass zumindest eine Person in Ordnung bleibt“, erklärt er. Sein Arbeitgeber habe ihm mentale Unterstützung angeboten, doch dafür bleibe keine Zeit zwischen Tagesjob und seinen stundenlangen Telefonaten, Mails und Erkundigungen für seine Familie in Gaza.
Eines gönnt er sich doch: Seit Kurzem geht er wieder ins Fitnessstudio, fast jeden Abend. Mit seinen Kumpels dort spricht er über Proteinshakes und Trainingspläne. Seine Geschichte kennt dort niemand und das ist gut so. Die Ablenkung helfe.
Urlaub hat er dieses Jahr noch nicht gemacht. Seine 22 verbliebenen Urlaubstage will er sparen für den Tag, an dem der Krieg vorbei ist. Für den Tag, an dem er seine Schwester wiedersehen kann.