Palästina: Von einem Staat ist kaum noch etwas übrig

Palästinensische Regierungsvertreter in Ramallah sind dieser Tage guter Dinge. Gespannt erwarten sie, was in den nächsten Tagen passieren wird. Sofern Politiker wie Emmanuel Macron oder Keir Starmer nicht in letzter Minute ihre Meinung ändern, werden ihre und einige weitere Länder dann den Staat Palästina anerkennen – so wie etwa drei Viertel der Mitglieder der Vereinten Nationen es schon getan haben.

Jetzt sind es aber internationale Schwergewichte wie Australien, Frankreich oder Großbritannien, die diesen Schritt gehen. Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bejubeln das als „historischen Wendepunkt“, der ihnen international einen kräftigen Schub gebe. Sie versprechen weitere Reformen und sagen voraus, dass die seit 58 Jahren währende israelische Besatzung bald Geschichte sein werde.

Also alles gut im Staate Palästina? Die zur Schau getragene Zuversicht ist eine Chimäre, die bittere Wahrheit ist eine andere: Die wachsende internationale Anerkennung des Staates Palästina erfolgt just in dem Moment, in dem immer weniger von einem solchen Staat die Rede sein kann. Palästina stagniert nicht nur – es verschwindet gerade, Stück für Stück. Es wäre eine bittere Ironie, wenn die Palästinenser die ersehnte Anerkennung gerade dann erreichen, wenn ihre Heimat selbst Geschichte geworden ist.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Dieses Palästina ist in drei Teile geteilt: das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen. Dort leben rund fünfeinhalb Millionen Palästinenser, allerdings unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Denn die drei Gebiete haben jeweils einen eigenen Status: Ostjerusalem wurde von Israel annektiert. Das Westjordanland ist in verschiedenen Abstufungen besetzt, rund 500.000 Siedler leben dort. Der Gazastreifen wurde seit dem israelischen Rückzug 2005 von Palästinensern regiert.

In dem Küstenstreifen herrscht ohne Zweifel die dramatischste Lage. Seit fast zwei Jahren führt Israel dort Krieg, nachdem das Land Opfer eines beispiellosen und beispiellos grausamen Terrorangriffs der Hamas geworden war.

Israelis fordern die Vernichtung des Gazastreifens

Benjamin Netanjahu gab unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 weitreichende, aber klare Ziele aus: die mehr als 250 Entführten zurückbringen, die im Gazastreifen regierende Hamas besiegen, die Bedrohung für die Grenzregion ausschalten. Fast zwei Jahre später sind Zehntausende Menschen tot, der Gazastreifen liegt in Trümmern – aber seine Ziele hat Israels Ministerpräsident nach wie vor nur teilweise erreicht. Der Feldzug gegen die Hamas gleicht schon seit geraumer Zeit einer endlosen Militäraktion mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung.

Manche glauben, das bekümmere Netanjahu nicht. Die Frage, ob man die Hamas mit militärischen Mitteln überhaupt vollständig vernichten kann, stellten Fachleute von Beginn an. Inzwischen wird auch die Zahl derjenigen immer größer, die im Vorgehen Israels einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen sehen, einen Völkermord. Israels Regierung und Armee weisen das zurück. Äußerungen, die implizit oder explizit auf die Vernichtung des Gazastreifens und seiner Bewohner zielen, sind in Israel aber allgegenwärtig – man liest sie von Politikern, sieht sie im Fernsehen oder im Internet, hört sie auf der Straße oder am Arbeitsplatz.

F.A.Z.

Was auch die Regierung nicht bestreitet, ist, dass sie die Bewohner des Gazastreifens am liebsten loswerden möchte. Das wird teilweise als humanitäre Maßnahme verbrämt: Es sei doch schändlich, dass andere Länder nicht mehr Notleidende aus dem Gazastreifen aufnehmen, verkünden Vertreter Israels, das solche Menschen selbst auch nicht aufnimmt. Betrachtet man das aus humanitärer Perspektive, haben sie dennoch recht. Zugleich ist aber allzu offensichtlich, dass dies eine Entvölkerung zum Ziel der israelischen Wiederbesiedlung des Gazastreifens sein soll.

Viele Palästinenser wissen das – die Erinnerung an die „Nakba“, die „Kata­strophe“ von 1948, nimmt einen großen Stellenwert im nationalen Gedächtnis ein. Etwa 700.000 Menschen mussten damals ihre Heimat verlassen und konnten nicht zurückkehren; viele der Menschen im Gazastreifen sind Nachkommen dieser Flüchtlinge und Vertriebenen. Werden sie von Journalisten gefragt, bekunden Menschen im Gazastreifen meist den Willen, sich nicht abermals vertreiben zu lassen.

Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass es so kommt. Im Weißen Haus zirkulieren immer noch Pläne für eine „Gaza-Riviera“. In den futuristischen Szenarien, die in einer Präsentation zusammengefasst wurden, gibt es Platz für so ziemlich alles, nur nicht für ein selbstbestimmtes Leben der Palästinenser. Angesichts von Hunger, Krankheit und ständigen Angriffen ohne Aussicht auf ein baldiges Ende könnten viele das nackte Überleben aber vorziehen.

Das palästinensische Volk ist auch im Westjordanland bedroht

Vor dem 7. Oktober hatte im Gazastreifen lange Zeit (trügerische) Ruhe geherrscht. Die internationale Aufmerksamkeit galt eher dem Westjordanland. Dort trieben militante palästinensische Gruppen wie die „Löwengrube“ in Nablus ihr Unwesen, und radikale israelische Siedler weiteten ihre Übergriffe aus. Heute ist es andersherum: Angesichts der Vielzahl dramatischer Nachrichten aus dem Gazastreifen wirkt die Gegend zwischen dem südlichen Hebroner Bergland und Dschenin im Norden fast schon ruhig. Auch dieser Schein trügt: Die Bewohner erleben die düstersten Zeiten seit Langem. Das Leben der Palästinenser als Volk ist heute nicht nur im Gazastreifen bedroht, sondern auch im Westjordanland.

Eine unmittelbare Folge des 7. Oktobers dort war ein dramatischer Anstieg der Gewalt vonseiten militanter Siedler. Dutzende Gemeinschaften palästinensischer Hirten wurden schlichtweg vertrieben: Siedler drangen Tag und Nacht in die ärmlichen Weiler ein, schikanierten die Bewohner, stahlen ihre Schafe und nahmen den Menschen damit die Lebensgrundlage. Inzwischen sind weite Landstriche zu „No-go-areas“ für Palästinenser geworden.

Die Terrorangriffe sind aber nicht nur häufiger geworden, auch das Niveau der Gewalt hat sich merklich erhöht. Es gab mehrere Fälle, in denen Palästinenser von Siedlern grundlos erschossen wurden, ohne dass dies für die Täter schwerwiegende Folgen hatte. Die israelischen Behörden – allen voran Armee und Polizei – unternehmen wenig, um dem Eindruck entgegenzutreten, dass sie letztlich mit den Siedlern zusammenarbeiten.

Die Besatzungsverwaltung wiederum wird inzwischen offen von Siedlern geführt, unter der Leitung von Finanz- und Siedlungsminister Bezalel Smotrich. Das widerspricht den früheren israelischen Beteuerungen, wonach es sich um eine rein militärische Besatzung handele, die überdies temporär sei – und insofern im Einklang mit Bestimmungen des Völkerrechts stehe.

Der Internationale Gerichtshof ist schon im vergangenen Jahr in einem Gutachten zu dem Schluss gekommen, dass diese Besatzung nicht mehr rechtskonform sei. Die UN haben daraufhin vor genau einem Jahr in einer Resolution alle Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, nichts zu tun, was die Aufrechterhaltung der Besatzung fördert. Außerdem setzten sie eine Frist: Israel müsse die Besatzung binnen zwölf Monaten beenden. Der Stichtag wäre der vergangene Donnerstag gewesen.

Fachleute nennen das „De-facto-Annexion“

Die Realität sieht indessen ganz anders aus. Der Charakter der Besatzung hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert – hin zu dem, was Fachleute „De-facto-Annexion“ nennen: Die palästinensischen Gebiete sind nominell zwar weiterhin nicht Teil Israels, aber immer mehr Bestimmungen und Verwaltungsstrukturen werden angeglichen. Die Siedler, die in Netanjahus Regierung über großen Einfluss verfügen, kommen ihrem Ziel immer näher, die besetzten Gebiete Israel einzuverleiben – mindestens faktisch. Ob sie das bald auch juristisch tun werden, ist noch offen. Seit Macron und andere die Anerkennung Palästinas angekündigt haben, gibt es in Israel Aufrufe, als Vergeltung das Westjordanland oder zumindest einen Teil davon formal zu annektieren.

Ein Gebäudekomplex israelischer Siedler (Mitte) in der Nähe von Ramallah im Jahr 2024
Ein Gebäudekomplex israelischer Siedler (Mitte) in der Nähe von Ramallah im Jahr 2024dpa

Eine offene Frage ist allerdings, was mit der palästinensischen Bevölkerung geschehen würde. Die Staatsbürgerschaft will Israel den Palästinensern gewiss nicht verleihen. Derzeit geht die Entwicklung dahin, dass die Bewegungsfreiheit der Palästinenser immer stärker eingeschränkt wird. Das liegt nicht nur an der Siedlergewalt, sondern auch an Maßnahmen der Armee. So wurden in den vergangenen Monaten an zahlreichen Straßen kleine gelbe Tore neu errichtet. Wer durch das Westjordanland fährt, sieht sie an zig Kreuzungen und Ortseinfahrten. Mit ihnen kann die Armee jederzeit Straßen sowie ganze Dörfer und Städte absperren. Mehr als 1200 solcher gelben Tore gibt es laut Angaben der PA inzwischen im Westjordanland.

Israels Finanz- und Siedlungsminister Smotrich schlug kürzlich vor, 82 Prozent des Westjordanlands zu annektieren. Nur sechs städtische Gebiete sollen davon ausgenommen sein, gemäß einer Karte, die er präsentierte. So könnte der Staat Palästina also aussehen: sechs Enklaven, abgesperrt durch gelbe Tore.