Onlinedating: Löffelchen mit dem Fremden

Samstagnacht, 3.15 Uhr. Ich schließe die Tür zu meinem kleinen Appartement in Berlin-Mitte und höre, wie unten das Hoftor ins Schloss fällt. Ein Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus. Was war denn das eben?! Bin ich jetzt vollkommen übergeschnappt? Ich weiß es bis heute nicht. Genauso wenig, wie ich weiß, wie er heißt oder wo er wohnt. Der Mensch, mit dem ich gerade fünf Stunden auf dem Boden meines Schlafzimmers gelegen habe – in seinen Armen. In einer Körperhaltung namens „Löffelchen“.

Die Tatsache, dass ich mich in den vergangenen Monaten fast rund um die Uhr für eine künstlerische Veranstaltungsreihe gegen Faschismus und für demokratische Werte abgerackert habe, spielt hier keine unwesentliche Rolle. Ein Stück weit habe ich den Glauben an diese Gesellschaft verloren. Ein Gefühl von Distanz, von mangelnder Verbundenheit macht sich immer stärker in mir breit. Aber die Nazis allein können nicht der Grund sein, warum ich mit einem Fremden in meiner Wohnung gekuschelt habe. Das gebe ich ihnen nicht auch noch.

Vor rund zwei Jahren matchten wir auf OkCupid oder Bumble oder irgendeiner anderen Plattform. Er war dort namenlos unterwegs, sein Profilbild zeigte einen Sonnenuntergang mit einem Stück Jackenärmel. Über zwei Jahre schrieben wir uns in unregelmäßigen Abständen. Wir schickten uns Bilder von spannenden Orten, weil wir beide viel reisen, schienen auf der Suche zu sein, interessiert an Nähe, nur nicht an der echten, der mit den Wunden und den Problemen. Dass wir beide um die 40 sind, fiel irgendwann beiläufig im Chat. Dabei ist es doch eigentlich ein wesentliches Thema. In diesem Lebensabschnitt einer dieser „Singles“ in einer Stadt wie Berlin zu sein. Dort, wo fast alles temporär und erschreckend unverbindlich ist. Wo ich zwischen Tea Partys in der Spitzmühle oder Darkrooms und Kinky Poo-Events wählen kann, wie nah ich Fremden sein möchte. Die Optionen sind unendlich, und doch fehlt es an so vielem. 

Es fehlt vor allem dann, wenn man mit den Nerven und der Welt am Ende ist. Aufgerieben im Kampf um demokratische Werte, gegen rechtsextreme Ideologien und populistische Entwicklungen weltweit. Überall Ego und Kampf. Kein Dialog mehr, selbst in der von mir so geliebten Kunstwelt. Ich bin dauerwütend, es fehlt mir an Verbindlichkeit, an Authentizität und Direktheit. Wann haben wir aufgehört, uns radikal zuzuhören und einander in unseren Widersprüchen zu ertragen? Wann wurde alles schwarz-weiß?

In Momenten, in denen sich keine Antworten finden ließen, unternahm ich halbherzige Versuche, ein reales Treffen zwischen ihm und mir zu initiieren. Aber irgendwas kam immer dazwischen: Corona, Arbeit, Familienprobleme, Reisen – das komplizierte Leben.

Dazwischen also immer wieder monatelange Pausen, kein Austausch, keine Bewegung. Mich begleitete lediglich das amorphe Wissen darum, dass ich nicht allein bin. Solche Illusionen helfen, aber sie bleiben Illusionen. Und irgendwann hatte ich die Schnauze voll, löschte aus Verzweiflung fast alle Apps und schrieb dem Fremden, dass mir die Unverbindlichkeit nicht mehr guttat, dass ich den Chat beenden wolle. Überraschenderweise kam darauf eine direkte Reaktion. Er würde mich gerne sehen und mir zum Dank für den langen Austausch, für das virtuelle Beieinandersein, gerne eine reale Umarmung hinterlassen. Ja, dachte ich, vielleicht ist das bei allem Zweifel an unserer Gesellschaft genau das, was ich brauche. Die Umarmung eines Fremden. 

Und so kam es dann. Er wollte meine Adresse und den Namen am Klingelschild nicht notieren und stromerte gegen 22 Uhr an einer Straßenecke in meiner Gegend rum. Er rief mich an, ich lotste ihn zu meiner Eingangstür und drückte den Summer. Er kam hoch, und keine Sekunde hatte ich Angst, war mir nicht unsicher. Ein Teil von mir hatte fantasiert, dass jetzt George Clooney durch meine Tür spazieren würde. Dem war nicht so. Doch die Enttäuschung blieb oberflächlich und verflog sofort.