
Die Lady trampt normalerweise, nutzt selten den öffentlichen Nahverkehr – sie erwischt immer einen freundlichen Fernfahrer, der sie mitnimmt. Cécile muss rasch von Paris, wo sie lebt, in ihr Heimatdorf, der Vater hatte einen Herzinfarkt. Er muss nun entschieden kürzertreten, die Tochter soll der Mutter helfen, ihn davon zu überzeugen.
Seit Jahrzehnten führen die Eltern ein Lokal im Dorf, „Lʼescale“. Eine Fernfahrer-Raststätte, die wirkt mit ihrer minimalen Inneneinrichtung absolut anti-anheimelnd. „Ihr serviert ja immer noch Obstsalat“, mault Cécile. Gérard, der Vater, will vom Aufhören natürlich nichts wissen, er fasst, was er vorhat, singend in ein berühmtes Lied von Dalida: „Mourir sur scène“.
Der Film ist eine kleine amouröse Eloge auf das Essen, die Liebe und die Musik. Cécile ist selber Küchenchefin, bei der Kochsendung „Top Chef“ ist sie groß rausgekommen mit einem Hummer-Soufflé. Sie will nun in wenigen Tagen in Paris ein eigenes kleines Top-Restaurant eröffnen, mit ihrem Lebensgefährten Sofiane. In ihrer Versuchsküche sah man die beiden anfangs sich über die Teller beugen, hoch konzentriert, und kunstvoll die Speisen mit kleinen Tupfern verzieren, ein wenig angestrengt, wie in einem Labor. Cécile hat eben erfahren, dass sie schwanger ist.
Daheim ist alles anders, Cécile erlebt Offenheit und Lebenslust, und die prollige Vergangenheit, in die sie zurückkehrt, zeigt naives Selbstbewusstsein. Der Film ergreift nicht Partei zwischen der Jugend und dem Heute, der Provinz und Paris. Der Vater ist ein bisschen patzig, dass die Tochter den sozialen Aufstieg probiert. Die alten Kumpel und Freunde begegnen ihr deshalb mit frotzelndem Respekt, man trifft sich wie früher, die Zeit scheint aufgehoben zu sein. Die Burschen flippen aus, als plötzlich Christian Etchebest auf Céciles Handy anruft, der berühmte Starkoch aus dem Fernsehen.
Der Film von Amélie Bonnin, ihr erster Spielfilm, hat im Frühjahr Furore gemacht, als er das Glitzer-Festival von Cannes eröffnete. Die Sängerin Juliette Armanet spielt Cécile, und mitten in einer Szene in ihrer Pariser Experimentierküche fangen sie und ihr Freund plötzlich zu singen an. Dass in populären und erfolgreichen Songs, die man im Ohr hat und jederzeit mitsingen könnte, Lebensweisheit sich konzentriert, hat das französische Kino immer wieder inspiriert.
Hier singen auch die, die musikalisch nicht besonders fit sind
On connait la chanson sagt man in Frankreich, wenn schon die ersten Töne kollektive Erinnerungen wecken. So heißt auch ein großartiger Film von Alain Resnais, dessen Figuren, emotional schwer bewegt, immer wieder mit ihren Gefühlen herausplatzen, mit ein paar Takten vertrauter Lieder. Damals höre man die Originalstimmen und Originalaufnahmen, die Akteure machten synchron die Lippenbewegungen dazu.
Hier singen alle selber, auch die, die musikalisch nicht besonders fit sind. Das geht zurück auf die französische Chansonkultur, und besonders auf Jacques Prevert, der diese zusammenbrachte mit dem Kino – eine Verbindung, wie sie in den Filmen von Jacques Demy, Agnès Varda und eben Resnais gepflegt wird. Bei Jacques Prevert erfahre man, schrieb Frieda Grafe, „wie sehr jede Individualität durchdrungen ist vom Leben aller anderen rundherum“.
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Cécile geht morgens über den Markt, und da hat unversehens Raphaël, der Jugendfreund, seinen großen Auftritt. Bastien Bouillon spielt ihn, den man kürzlich in unseren Kinos in „Der Graf von Monte Cristo“ und „Monsieur Aznavour“ sah: Raphaël war fischen und watet aus dem Wasser auf Cécile zu, mit einem unverschämten, übergriffigen Lachen … Die Beziehung lebt wieder auf, sie ist geprägt von Fahrten auf dem Motorrad und einem Tanz in einer Eislaufhalle, auch das eine musikalische Nummer mit amerikanischem Intro: „Ready girl? Letʼs do this.“
Der Film hat einen Vorläufer, einen Kurzfilm, für den Amélie Bonnin 2021 einen Preis bei den Césars bekommen hat. Er heißt ebenfalls „Partir un jour“. Es sind genau die gleiche Geschichte und die gleichen Schauspieler, nur umgedreht. Diesmal ist Bastien Boullion es, der aus Paris nach Hause kommt, als schüchterner, ein wenig verklemmter Schriftsteller. Und Juliette Armanet ist das Mädchen, das im Dorf blieb, und den Vater spielt auch wieder François Rollin. Es ist ein zaghaft tastender Film, der zurückschreckt vor der Einsamkeit, die die Vergangenheit für uns bereithält. Für die Fahrt zurück nach Paris nimmt der Junge dann den Zug.
Partir un jour, 2025 – Regie: Amélie Bonnin. Buch: Bonnin, Dimitri Lucas. Kamera: David Cailley. Schnitt: Héloïse Pelloquet. Musik: PR2B, Keren Ann, Thomas Krameyer, Germain Izydorczyk, Theo Kaiser, Emma Prat, Chilly Gonzales. Mit: Juliette Armanet, Bastien Bouillon, François Rollin, Tewfik Jallab, Dominique Blanc. Wild Bunch, 96 Minuten. Kinostart 2. Oktober 2025.