Nubya Garcia: Streng in der Form, frei in den Einflüssen

Kommt vom Jazz, kommt von der Klassik: die Londoner Saxofonistin Nubya Garcia © Danika Lawrence

Am Abend spricht Nubya Garcia nach der ersten langen
Nummer, dem Titelstück ihres aktuellen Albums Odyssey, mit der sie und
ihre Band den Club gleich zerlegen, länger zu ihrem Publikum. „Ehrlich
gesagt bin ich ziemlich hungrig“, sagt sie. „Wir hatten vor der Show
Essen bestellt, aber es kam einfach nicht.“ Willkommen in Berlin! Aus dem
Publikum reicht jemand einen Karton mit Pizza auf die Bühne. Garcia bedankt sich
dreimal, wie das höfliche Britinnen eben tun, auch wenn sie sich vegan ernähren
und Mozzarella eigentlich ablehnen.

Die Tenorsaxofonistin, Jahrgang 1991, spielt nicht zum
ersten Mal in Berlin. Sie gehört neben Shabaka Hutchings, der Band Kokoroko und Alfa Mist zu den bekanntesten Gesichtern einer Londoner
Jazzszene, die international gefragt ist und vieles anders macht. Zum einen ist da deutlich weniger Coolness
als in früheren Zeiten, mehr Nahbarkeit. Welcher Jazzstar vergangener
Jahrzehnte hätte mit dem Publikum über das ausbleibende Essen geredet? Er, ja,
fast immer er, hätte eben noch mal bestellt und später mit dem Konzert
angefangen. Doch nicht nur dieser Umgang mit Unwägbarkeiten, sondern auch die
Musik hat sich im Londoner Jazz verändert. Sie ist Schwärzer geworden, klingt
spiritueller, mal karibischer wegen der steten Einwanderung, mal tanzbarer. Und
man hört immer, dass schon lange keine Jugend mehr ohne Hip-Hop auskommt, ohne
irgendeine Bassmusik. Obwohl gerade das Ende 2024 erschienene dritte Album von
Nubya Garcia deutlich macht, woher sie kommt: vom Jazz, aber auch von der
Klassik, von den Streichern.

Wir reden am frühen Nachmittag im Backstageraum des
Berliner Clubs Metropol. Vor einer Viertelstunde sind Garcia, ihre dreiköpfige
Band und der extrem freundliche schottische Tour Manager und Fahrer angekommen.
Letzterer heißt Scott, ein Name, der im schottischen Dialekt ohne
„t“s auskommt: „Hi, I’m Sko.“ Die Band stöpselt sich im Halbdunkel die Ohren zu und
döst. Wir reden
unter einem Heizstrahler, Fenster gibt es nicht. „In meiner Familie war
Musik immer präsent“, sagt Garcia auf die Frage, wann sie sich in Jazz
verliebt habe. „Meine älteren Geschwister spielten alle Instrumente. Das
Saxofon war aber bereits mein viertes, nach Geige, Bratsche und etwas
Klarinette. Mit zehn spielte ich in einer Schulbigband, aber umgehauen hat mich
im Alter von zwölf Jahren Herbie Hancocks Maiden
Voyage
. Danach war die Sache gelaufen.“

Maiden Voyage ist eines dieser
kanonischen Jazzalben der mittleren Sechzigerjahre, aufgenommen im Dezember
1964. Nur ein paar Monate später ging Hancock als Pianist zu einer Session des
Tenorsaxofonisten Wayne Shorter, um einen weiteren Meilenstein einzuspielen: Speak
No Evil
. Bis heute inspirieren diese 60-jährigen Platten junge Jazzer, weil
die Musik darauf zwar harmonisch freier wurde, aber die Kompositionen streng
blieben. „Ja, streng und gleichzeitig frei“, sagt Nubya Garcia, „wie
jede gute Musik!“ Das ist deshalb so anspruchsvoll, weil man beides
aushalten und beherrschen muss, die Freiheit wie die Regeln. Vor allem auf Odyssey
hört man, wie gut Garcia das gelingt.

Beim Konzert in Berlin baut sie in ihr Stück Clarity
ein Zitat aus dieser Blütezeit des Jazz ein, vier Takte aus dem Thema von Shorters Witch Hunt. „Glauben
Sie mir, es galt für eine Zwölfjährige nicht als cool, solche Musik zu hören“,
sagt Garcia lachend. Da muss man durch als Teenager, und auch später noch, wenn
man kaum Freunde findet, die einen zu Konzerten begleiten wollen. „Aber so
richtig beunruhigt hat mich das nie. Ich hörte ja immer auch, was die anderen
hörten.“ Mittlerweile trägt Garcia selbst dazu bei, dass es leichter wird, Begleitungen für Jazzkonzerte zu finden. Gerade, wenn Musik aus London auf
dem Programm steht.

„Klar, es gibt eine jüngere Szene“, sagt
Garcia. „Ich kann mit meiner Musik in die USA, nach Asien, Australien und
Südafrika reisen und auf Festivals spielen, die keinen ‚Jazz‘ im Namen tragen. Das
ist neu. Aber auch wir stehen auf den Schultern unserer Vorfahren.“ Jazz
ist da wie Hip-Hop, wo die Geschichte und ihre Kontinuität oft eine Rolle
spielen. Und doch braucht es Brüche, den Willen zum Wandel. Auch in englischen
Musikschulen begann man vor einigen Jahren damit, ein Auge auf Diversität zu
richten, wovon junge Musikerinnen wie Garcia profitierten. Der Rest war
Eigeninitiative: „In London versuchten wir, in Pubs und Clubs zu spielen,
die nicht für Jazz bekannt waren. Erst mit regelmäßigen Jamsessions, dann mit
Konzerten. Wir vernetzten uns schnell“, sagt Garcia.