Halina Szczypta ist am Morgen mit ihren zwei Kindern aus Essen in die Räume der Arolsen Archives in Hessen angereist. Endlich soll sie eine Antwort bekommen. Die Antwort auf eine Frage, die sie und ihre Familie seit mehr als 80 Jahren quält. Was ist mit Mieczysław Kopyto geschehen?
1941 hatte der Siebzehnjährige sein Heimatdorf in Polen verlassen, um in Deutschland als Landarbeiter für seine Eltern und Geschwister Geld zu verdienen. Ein Jahr lang arbeitete er auf einem Bauernhof in Raubling bei Rosenheim, schrieb regelmäßig nach Hause und schickte den kargen Lohn im Umschlag mit. In einer seiner letzten Nachrichten berichtet der junge Mann vage davon, von einer deutschen Frau zu Unrecht angeklagt worden zu sein. Dann bleiben die Briefe plötzlich aus. Stattdessen trifft im Jahr 1942 ein Paket mit Mieczysławs wenigen Habseligkeiten im polnischen Dorf ein: Kleider, drei Paar Schuhe und sein Rasiermesser. Seine Eltern und Geschwister sind sich sicher: Mieczysław lebt nicht mehr. Er kehrt nicht wieder nach Hause zurück.
Mehr als 83 Jahre lang hinterließ das Nichtwissen um Mieczysław Kopytos Schicksal eine Leerstelle in der Familie. Halina Szczypta ist die Tochter von Mieczyslaws ältester Schwester. Ihre Mutter, erinnert sie sich, habe zeit ihres Lebens einen kleinen Altar mit dem Bild des jüngeren Bruders in ihrer Wohnung gehabt. „Es brannten immer zwei Kerzen darauf, und daneben stand eine Vase mit frisch gepflückten Blumen.“ Jedes Jahr an Allerheiligen gedachte die Familie des verlorenen Sohns, Bruders und Onkels, ohne Gewissheit darüber zu haben, was ihm in Deutschland zugestoßen war.
Hoffnung auf Antworten
Im November 2025 kommt dann ein Anruf, der Hoffnung auf Antworten weckt. Eine Freiwillige des Suchnetzwerks der Arolsen Archives, des international größten Zentrums mit Fokus auf die Verbrechen und Opfer des NS-Regimes, meldet sich bei dem in Polen lebenden Zweig der Familie. Man habe im Bayerischen Staatsarchiv München Briefe gefunden, die Mieczysław vor seinem Tod an seine Angehörigen geschrieben habe und die nie zugestellt worden seien. Eine Kooperation der Arolsen Archives mit dem Bayerischen Staatsarchiv mache es möglich, Einblick in die Akten und in die letzten Worte des jungen Mannes zu nehmen. Die Familie verständigt sich darauf, dass Halina Szczypta und ihre Kinder, die in Essen leben, nach Bad Arolsen fahren. Endlich gibt es Aussicht auf Klarheit.

Insgesamt wurden bei dem Gemeinschaftsprojekt der Arolsen Archives und des Bayerischen Staatsarchivs mehr als 50 zurückgehaltene Abschiedsbriefe aus 844 Hinrichtungsakten der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim erschlossen und digitalisiert. Das internationale Freiwilligennetzwerk der Arolsen Archives ermittelt seit April dieses Jahres die Hinterbliebenen der Ermordeten – darunter die von Mieczyslaw Kopyto.
Ende November sitzen Halina Szczypta, ihre Tochter Martha Gödde und ihr Sohn Markus Szczypta an einem Konferenztisch im Gebäude der Arolsen Archives im nordhessischen Bad Arolsen. Alle drei wirken angespannt, bemühen sich aber, die Fassung zu wahren. Er wisse noch nicht so recht, was ihn jetzt erwarte, sagt Markus Szczypta. „Ich habe Angst, aber irgendwie freue ich mich auch, hier zu sein.“ Den Familienangehörigen gegenüber sitzt Malgorzata Przybyla, eine der Leiterinnen des Suchteams der Arolsen Archives.

Neben den Besuchern beugt sich der Historiker und Experte für NS-Verbrechen, Alexander Korb, über einige Mappen und lose Blätter vor ihm auf dem Tisch. Langsam beginnt er zu schildern, was sich aus den gesammelten Dokumenten über Mieczysław Kopytos letzte Monate rekonstruieren lässt. Aus den Akten gehe hervor, berichtet er, dass auf dem Bauernhof, auf dem Mieczysław arbeitete, außer mehreren polnischen Zwangsarbeitern eine junge Deutsche beschäftigt gewesen sei. In welchem Verhältnis beide zueinander gestanden hätten, sei nicht mehr eindeutig zu klären. Fest steht: Die Frau erstattete Anzeige gegen Mieczysław – trotz des Umstands, dass sowohl der Bauer als auch der hinzugezogene Polizist sie offenbar davon abzuhalten versuchten.
Der Strafverteidiger schweigt
Am 28. Juni 1942 wird Mieczysław verhaftet. Nach elf Wochen in Untersuchungshaft in Rosenheim wird er zuerst in die Haftanstalt München-Neudeck und letztlich nach München-Stadelheim verlegt. Am 17. September wird ihm vor einem Sondergericht im Justizpalast München der Prozess gemacht. Auf Antrag des Staatsanwalts verurteilen drei Richter Mieczysław Kopyto nach der Polenstrafrechtsverordnung wegen angeblicher Misshandlung einer deutschen Frau und eines Vergewaltigungsversuchs rechtskräftig zum Tode. Sein Strafverteidiger schweigt.

Ob der Dolmetscher des Gerichts, der sonst aus dem Französischen übersetzte, für einen Prozess ausreichende Polnischkenntnisse besaß, ist fraglich. Noch am Tag der Verurteilung schreibt Mieczysław einen Brief an seine Eltern und Geschwister, der nie ankommen wird. Darin beteuert er seine Unschuld; die junge Frau habe falsch geschworen. Der Bauer, bei dem er gearbeitet hatte, verjagt die Anklägerin nach dem Urteilsspruch von seinem Hof.
„Warum?“, fragt sie leise.
Malgorzata Przybyla atmet tief ein. Es ist still im Raum. Halina Szczypta runzelt die Stirn. Sie hat Schwierigkeiten, der Geschichte auf Deutsch zu folgen, doch ihre Kinder blicken sichtlich bestürzt und fassungslos. „Wollen sie ihn sehen?“, fragt Malgorzata Przybyla. Sie reicht Halina Szczypta die Kopie eines vergrößerten Passfotos aus den Akten. Sie nimmt das Bild entgegen und blickt in das ernste Kindergesicht mit den leicht abstehenden Ohren. Tränen laufen über ihre Wangen. Immer wieder drückt sie das Bild an ihr Gesicht und gegen den Mund. „Warum?“, fragt sie leise, „er ist nur ein Kind“.
Malgorzata Przybyla nimmt die Abschriften der Abschiedsbriefe in die Hand. Die Familie möchte sie zuerst im Original, auf Polnisch, hören. Als sie vorliest und die letzten Worte von Mieczysław Kopyto den Raum füllen, fließen auch bei Markus Szczypta und seiner Schwester die Tränen. Im Brief heißt es: „Weint nicht um mich, denn ich bin nicht allein, wir sind viele. Es ist Gottes Wille, betet für mich.“

Würde er heute noch leben, wäre Mieczysław Kopyto 101 Jahre alt. Die NS-Justiz hat ihm das Recht auf Leben und eine Zukunft abgesprochen. Sein Gnadengesuch wurde vom Justizministerium Berlin im Namen Adolf Hitlers abgelehnt. Am 2. November 1942 wird er um 17.05 Uhr im Hinrichtungsraum der Haftanstalt München-Stadelheim von einem Scharfrichter vor mehreren Zeugen enthauptet. Mieczysław Kopyto wurde keine 19 Jahre alt.
Zwei Minuten später, um 17.07 Uhr, stirbt der neunzehnjährige polnische Zwangsarbeiter Jan Stepniak unter dem selben Fallbeil. Auch er wurde von einem Sondergericht des NS-Unrechtsstaats verurteilt. Die beiden jungen Männer werden gemeinsam mit einem dritten Opfer um 17.30 Uhr auf dem Friedhof Perlacher Forst beigesetzt. Zu diesem Zeitpunkt sind ihre Körper noch nicht einmal kalt. Bis Kriegsende wird die Maschinerie, die Millionen das Leben genommen hat, nicht stillstehen.
Da es sich bei den originalen Akten und Briefen um Archivgut handelt, erhält jedes der drei Familienmitglieder eine Mappe mit Kopien und Faksimiles der Briefe. Markus Szczypta möchte dafür sorgen, dass alle Verwandten mehr über das Schicksal seines Großonkels erfahren. „Wir wollen in Polen eine Heilige Messe für Mieczysław abhalten“, sagt er. Auch die Grabparzelle auf dem Friedhof Perlacher Forst möchte die Familie besuchen.
83 Jahre voller Ungewissheit mussten vergehen, bis Mieczysław Kopytos Worte ihren Weg nach Hause fanden. Die Menschen, die er erreichen wollte, können sie nicht mehr hören. Was damals für eine kleine Gruppe enger Verwandter bestimmt war, wandert heute durch die vielen neuen Verästelungen des gewachsenen Familienstammbaums. Der junge Mann, der 1942 von der NS-Justiz ermordet wurde, ist ein Teil der Geschichte, die die Familie über Generationen hinweg miteinander verbindet.
