Noch ist Klingbeils Masterplan nicht aufgegangen

Tim Klüssendorf greift ins Gras. Er blickt die Ränge des Weserstadions hinauf. „Wo gibt es heute noch Orte, an denen Menschen zusammenkommen, die sonst nichts miteinander zu tun haben?“ Er gibt die Antwort selbst: „Beim Sport!“

Zwar kommt derzeit im Weserstadion in Bremen niemand zusammen, es ist noch Sommerpause. Aber der SPD-Generalsekretär hat sich diese und andere Sportstätten für seine mehrtägige Sommertour durch Norddeutschland ausgesucht für die Botschaft: Raus aus der Berliner Blase – und hin zu den Themen, die die Leute im Land wirklich interessieren. Klüssendorf ahnt: Der Streit über die abgesagte Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht tut das eher nicht – wobei der ihn Tage und Nächte gekostet hat. Stattdessen spürt er eine latente Genervtheit im Land wegen genau dieser Art von Streitereien der noch recht jungen Koalition von CDU/CSU und SPD.

Sportfan Klüssendorf ist davon auch genervt, wenn er nicht gerade auf seiner Sommertour ein bisschen klettern oder Tischtennis spielen kann. Doch bei allem Knirschen im Verhältnis mit der Union geht leicht unter, dass auch innerhalb der SPD einiges an Konfliktpotential liegt. Denn noch ist der Masterplan von Lars Klingbeil nicht aufgegangen. Der Mann mit den vielen Ämtern, der sich selbst gerne als Investitionsminister bezeichnet, konnte die schwache SPD bislang nicht über Wasser ziehen.

Klingbeil selbst hat viele Linke um sich geschart

Wie auch? Seine eigene Situation ist ja auch kritisch. Klingbeil will der Ober-Realo seiner Partei sein, hat es aber unter sich mit Politikern und Funktionären zu tun, die nach links driften. Zunächst gehörte das zu Klingbeils Plan: Er war es selbst, der wichtige Funktionen in die Hände von Parteilinken gab. Klüssendorf ist einer von ihnen. Dessen großes Thema ist die Vermögensverteilung, ein sozialdemokratisches Urthema. Als Generalsekretär ist es nun seine Aufgabe, in die Partei zu wirken, aber auch, den politischen Konkurrenten zu ärgern. Wie macht man das, etwa bei der Union? Indem man zum Beispiel eine Reform der Erbschaftsteuer fordert. Nur freut sich der eigene Parteichef womöglich auch nur wenig über solche Einwürfe.

Dann ist da noch Matthias Miersch. Klingbeil hat seinen Freund aus Niedersachsen erst zum Generalsekretär gemacht, dann zum Fraktionsvorsitzenden. Wie kompliziert es werden kann, wenn man einen selbstbewussten Linken auf diesen Posten setzt, musste schon Olaf Scholz mit Rolf Mützenich erfahren. Doch bei Miersch liegt das Problem woanders. Obwohl er aus einer anderen politischen Ecke kommt als Klingbeil, hat er sich ganz dem Gelingen der Koalition verschrieben. Was heißt: auch harte Entscheidungen bei den eigenen Leuten durchzudrücken. Doch anders als bei Mützenich stellt sich bei Miersch die Frage: Hat er dazu die SPD-Fraktion gut genug im Griff?

Oft heißt es, Sozialdemokraten seien so loyal der Führung gegenüber, dass sie sich gar nicht trauten, in großer Zahl die Gefolgschaft zu verweigern. Aber Miersch musste zuletzt bei der Abstimmung über die Aussetzung des Familiennachzugs erkennen, wie schwierig es auch für einen SPD-Fraktionsvorsitzenden geworden ist, Zustimmung zu organisieren. Wie zu Herbert Wehners Zeiten läuft es eben nicht mehr. Der hatte, wenn ihm Abgeordnete von ihren Gewissensbissen vor einer Abstimmung erzählten, gerne entgegnet: Dann lass dich das nächste Mal doch von deinem Gewissen aufstellen und nicht von deiner Partei.

Feindbild Jens Spahn

Das Fremdeln in der SPD-Fraktion gegenüber den Unionskollegen ist außerdem weiterhin groß. Friedrich Merz ist dabei nicht mehr so das Problem, viele Sozialdemokraten kommen mit dem Kanzler in seiner neuen Rolle gut klar. Auch, weil er jetzt vermittelnder auftreten will. Das neue Feindbild: Fraktionschef Jens Spahn (CDU). Ein führender Sozialdemokrat fasst die Stimmung bei den eigenen Leuten so zusammen: „Es gibt einen Blutdurst auf Spahn.“

Doch Miersch muss mit ihm den Zusammenhalt in der Koalition organisieren. Ihr Arbeitsverhältnis wird zu einem Gutteil über Wohl und Wehe dieses Bündnisses entscheiden, heißt es von beiden Seiten. Die beiden sprechen regelmäßig und offen miteinander. Sie haben sich in der Sommerpause mehrfach getroffen, in der Regel wird zwei Mal pro Woche telefoniert, wenn man sich nicht eh in Berlin sieht. Aber dadurch bewerten sie nicht alles gleich.

Die SPD fragt sich nach der abgesagten Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht weiterhin, wie zuverlässig Absprachen mit der Union sind. „Ich erwarte, dass wir im September die Wahlen von allen drei Richtern im Deutschen Bundestag absolvieren“, sagt Miersch. Die SPD hängt die Sache sehr hoch. Es ist klar: Sollte noch einmal eine Richterwahl abgesagt werden, wäre die Koalition in einer schweren Krise.

So ist man nach mehr als 100 Tagen gemeinsamer Koalition trotzdem noch im Modus des gegenseitigen Kennenlernens. Oder im Fall derer, die sich schon ein schlechtes Bild vom Gegenüber gemacht haben: des noch mal neu Kennenlernens. Helfen soll ein gemeinsamer Grillabend der Fraktionen und die Klausursitzung Ende kommender Woche in Würzburg. Die soll aber auch ein echtes Arbeitstreffen sein, etwa zu der Richterfrage.

In das Vakuum stoßen andere

Gast in Würzburg wird ein anderer Ober-Realo sein: NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Eingeladen hat ihn die Union, die CSU ist diesmal für die Ausrichtung des Klausurtreffens zuständig. Für manche Sozialdemokraten dürfte der Mann, der Donald Trump schmeichelte bis zur Unterwerfung, kein einfacher Charakter sein. Überhaupt ist spürbar, dass in der Fraktion die Sehnsucht größer wird nach klaren Überzeugungen, Positionen und Abgrenzung. Das zeigt sich in der Innenpolitik, etwa der Frage nach der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, aber auch in der Außenpolitik.

Klingbeil hinterlässt da, auch angesichts seiner Arbeitsbelastung, gleich an mehreren Stellen ein Vakuum – das dann andere füllen. Als von der Parteiführung kein Kommentar kam zu der Verlegung von Atom-U-Booten durch Trump, äußerte sich Rolf Mützenich. Der frühere Fraktionschef führt eine merkwürdige Existenz im SPD-Kosmos: Er hat keine bedeutende Funktion mehr, ist schlicht Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.

Klingbeil gab ihm zwar kein Amt, aber Mützenichs Autorität bei vielen Abgeordneten konnte er nicht kappen. Sei es zu Gaza oder zur Ukraine – Mützenich ist da, wo Klingbeil nicht ist. Außerdem weiß Mützenich sein Erbe in loyalen Händen. Adis Ahmetovic ist nun außenpolitischer Sprecher der Fraktion. Die beiden haben vor Kurzem gemeinsam einen Aufruf zu Gaza gestartet, um Bundeskanzler Merz unter Druck zu setzen.

Merz und die Büchse der Pandora

SPD-Chef Klingbeil sagte kürzlich selbst, er wisse, dass nicht alle in der Partei mit seinem Weg einverstanden seien. In Zahlen ausgedrückt: Nur 65 Prozent der Delegierten auf dem Parteitag unterstützten ihn. Womöglich erklärt sich so sein Vorstoß zu den Steuererhöhungen, die nicht vom Tisch seien. Vielleicht wollte er den eigenen Leuten etwas Ur-sozialdemokratisches geben, etwas, das sie wärmt.

Aber im selben Atemzug sprach der SPD-Chef davon, dass im Kernhaushalt gekürzt werden müsse und er dagegen sei, dass die SPD immer nur den Status quo bewahren wolle. Das zielte auf die Reform der Renten- und Sozialsysteme ab, die bei der SPD maximal unpopulär ist. Bei vielen SPD-Abgeordneten ist dabei ein paradoxes Verhalten zu beobachten: Die prekäre Lage ihrer Partei führt gerade nicht zum Mut der Veränderung, stattdessen wird sich an die bestehenden Konzepte geklammert – obwohl die ja in der Vergangenheit keinen Erfolg gebracht hatten. Der Investitionsminister baggert bei den eigenen Leuten am Beton.

Dieses Ausschwenken einiger, übrigens immer zur linken Seite, versucht Klingbeil weiterhin aber einzuhegen. Ausgerechnet Friedrich Merz, mit dem Klingbeil gut klarkommt, hat die Sache jedoch erschwert: Er sprach nach der abgesagten Richterwahl von einer Gewissensentscheidung, die die Unionsabgeordneten in diesem Fall hätten ins Feld führen können. Bei der SPD-Führung schrillten alle Alarmglocken. Die Rede war von der Büchse der Pandora, die Merz mit seiner Aussage geöffnet habe. Denn wenn nun alle in der Koalition ihrem Gewissen folgen sollten, dann herrschte Chaos.