
In unserer Kolumne „Grünfläche“ schreiben
abwechselnd Oliver Fritsch, Christof Siemes, Stephan Reich und Anna Kemper über die Fußballwelt und die Welt des
Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende,
Ausgabe 12/2025.
Fast 70 Jahre musste der englische Traditionsverein Newcastle United auf einen nationalen Titel warten. Und jetzt das: 2:1 im Finale des League Cup! Gegen den großen Liverpool FC!! In Wembley!!! Wo man seit 25 Jahren nicht mal ein einziges Törchen erzielt hat!!!! Ist das nicht herrlich?
Als Fan der Gladbacher Fohlen, die erst seit 30 Jahren auf einen Pott warten, egal welchen, kann ich sehr gut nachempfinden, warum gerade 300.000 Geordies (so werden die Einwohner Newcastles genannt) ausrasten und dem Trainer Eddie Howe der Titel „Honorary Freeman“ verliehen werden soll, die höchste Auszeichnung der Stadt.
„Generationen von Fans haben noch nie erlebt, dass ihr geliebter Verein eine nationale Trophäe gewonnen hat“, sagt die Stadtratsvorsitzende Karen Kilgour zur Begründung, „und unter seiner Führung haben wir jetzt alle wertvolle Erinnerungen an einen wirklich unvergesslichen Tag.“ Da macht es auch nichts, dass der League Cup lange als Schmuddelkind des englischen Pokalwesens galt. 1960 wurde er eingeführt, damit auch unter der Woche abends im Licht der damals neuen Flutlichtanlagen ein paar Spiele stattfanden. Als noch die Brauerei Worthington & Co. den Wettbewerb der Vereine aus den Ligen eins bis vier sponserte, wurde er als „Worthless Cup“ verspottet. In der Stadt an den Ufern des Tyne ist der Pott mit den drei Henkeln nun aber der heilige Gral, der Labsal spendet nach Jahrzehnten der Qual.
Auch dafür habe ich Verständnis, sind sich doch die Schicksale meiner Stadt und die der Geordies ziemlich ähnlich. Mit der industriellen Revolution wurde Mönchengladbach zur Textilmetropole, zum „Manchester am Niederrhein“, während Newcastle Großbritannien zur „Werkstatt der Welt“ machte, wie es auf der Website der Stadt heißt: „Sie war Heimat der Lokomotive, Geburtsstätte der Eisenbahn, Lieferant von Schiffen für die Welt, hier wurden Stromversorgung, elektrisches Licht und Turbinenkraft entwickelt.“ Nach den beiden Weltkriegen kam die Vertreibung aus dem von Kohle befeuerten Paradies; die einst reichste Stadt Englands wandelte sich zum Problemfall. Und wie in meiner Heimat wurde der örtliche Fußballverein zum Sinnstifter, Mutmacher, ja fast zu einer Art Ersatzreligion, mit dem St. James‘ Park, dem legendären Stadion von 1892, als Kathedrale. Unser Bökelberg war dagegen nur eine Kapelle.
Spätestens seit dem Finale am vergangenen Sonntag hat die Gemeinschaft derer, die an die Magpies, die Elstern in ihren schwarz-weiß gestreiften Trikots, glauben, einen neuen Heiligen: BDB, „Big“ Dan Burn, Kapitän der Mannschaft, der mit seinem kapitalen Kopfball zum 1:0 kurz vor der Pause das Wunder auf den Weg brachte. „Das größte Tor, das er jemals erzielen wird!“, schrie der ekstatische Reporter der TV-Übertragung und stabreimte gleich eine Ode auf den neuen Helden, den „boy from Blyth“ und seinen „historic header“ zum „win at Wembley“.
Die wechselvolle Geschichte des freundlichen 2,01-Meter-Riesen ist auch zu rührend: Geboren nur 20 Kilometer nordöstlich von Newcastle, wurde er schon als Elfjähriger mangels Perspektive beim Nachwuchs der Magpies aussortiert. Es folgten Tingeljahre durch diverse Amateurvereine und ein Job im Supermarkt, ehe er 2011 vom Fünftligisten Darlington zum FC Fulham wechselte und doch noch Profi werden konnte. Erst nach dem Umweg über sechs weitere Stationen war der verlorene Sohn 2022 reif für eine Rückkehr zu seinem schwarz-weißen Herzensclub. Und als wäre das nicht schon kitschig genug, wurde der Innenverteidiger auch noch wenige Tage vor dem historischen League-Cup-Finale von Thomas Tuchel in die englische Nationalmannschaft berufen. Ein Debütant von 32 Jahren. „Ich musste ein paar SMS verschicken, um sicherzugehen, dass ich nicht verarscht werde oder so“, erzählte BDB dem Boulevardblatt Sun. „Ich will nicht mehr schlafen gehen, weil ich das Gefühl habe, zu träumen und alles wäre eine Lüge.“
Ist es das nicht auch, zumindest ein bisschen? Die romantische Underdog-Geschichte von Big Dan und den seit Jahrzehnten arg gezausten Elstern ist jedenfalls allenfalls die halbe Wahrheit. Hinter den späten Erfolgen des Kapitäns und seiner Mannschaft steckt nämlich jede Menge Geld, und das kommt längst nicht mehr aus der Kohlestadt Newcastle, sondern sprudelt aus Saudi-Arabiens Ölquellen. 2021 übernahm der Staatsfonds des Landes für 350 Millionen Dollar 80 Prozent der Anteile an United. An der Spitze dieser gewaltigen Geldmaschine, die inzwischen ein Vermögen von fast 1.000 Milliarden Dollar verwaltet, steht Mohammed bin Salman, der umstrittene Kronprinz und heimliche Herrscher des Landes, in dem Menschenrechte nicht so viel gelten, etwa für Journalisten wie den zerstückelten Jamal Khashoggi. Die United-Anhänger hatten von Anfang an keine Probleme damit, dass ihr Club ganz offensichtlich zu einem Vehikel des Sportswashings einer Autokratie wurde; der Einstieg der Saudis wurde auf den Straßen Newcastles gefeiert.
Seither hat der Verein rund eine halbe Milliarde Euro für neue Spieler ausgegeben. Selbst für die sentimentale Heimkehr von Big Dan waren 15 Millionen Euro fällig. Und für den anderen Torschützen im Finale von Wembley, den schwedischen Nationalstürmer Alexander Isak, wurden 70 Millionen Euro nach Spanien überwiesen, zu Real Sociedad. Derart gedopt, qualifizierten sich die Magpies nur eine Saison später für die Champions League. Klar, Geld allein schießt keine Tore. Und offenbar gelingt es mit dem Coach Eddie Howe besser als in anderen neureichen Clubs, aus internationalen Großeinkäufen und einheimischen Mentalitätskickern eine Einheit zu formen. Howe ist, ähnlich wie Burn, einer, der es nach Jahren als Spieler und Trainer in unteren Ligen ganz nach oben geschafft hat und sich noch immer als Mann des Volkes präsentiert. Nach dem Triumph von Wembley stand er mit seinen beiden Kindern an der Hand vor Mikrofonen und sagte: „Newcastle ist ein Familienclub und vertritt familiäre Werte.“ Der Wahrheit etwas näher kam wohl der Rechtsverteidiger und Nationalspieler Kieran Trippier, der bei seiner Matchbilanz befand, die Fans und der Trainer hätten den Pokal verdient – die Besitzer aber auch.
Wie fände ich es, wenn Big Oil meine Fohlen in echte Rennpferde verwandeln würde? Unser gegenwärtiger Volksfußballer heißt Tim Kleindienst, legt ebenfalls eine unerwartete, späte Nationalmannschaftskarriere hin, hat aber nur sieben Millionen Euro gekostet und war damit schon ein Toptoptop-Transfer. Das reicht, um zur gehobenen deutschen Mittelklasse zu gehören und am Niederrhein von Europa zumindest träumen zu dürfen. Vorerst kann mir das böse Geld also gestohlen bleiben. Wenn wir weitere drei Jahrzehnte pottlos bleiben, müssen wir vielleicht noch mal reden.