Neuverfilmung von „Momo“ im Kino: Die grauen Herren haben gewonnen – Kultur

Es gibt Bücher, bei denen weiß man noch, wo man war, als man sie nach der letzten Seite zugeklappt hat. „Momo“ von Michael Ende dürfte für viele Menschen so ein Buch gewesen sein. „In alten, alten Zeiten, als die Menschen noch in ganz anderen Sprachen redeten, gab es in den warmen Ländern schon große und prächtige Städte.“ So lautet der erste Satz.

Warme Länder also. Warme Gefühle. Ein Mädchen mit schwarzen Augen, schwarzen Locken und schwarzen Füßen lebt in der Ruine eines Amphitheaters, ein Waisenmädchen offenbar, eine kindliche Landstreicherin, vieles bleibt offen, wir befinden uns im erzählerischen Bereich des Märchens. Aber dann tauchen „graue Herren“ auf, sie wollen die Leute dazu animieren, Zeit zu sparen. So treiben sie der Welt das Märchenhafte aus. Der, wie man heute sagen würde, Twist des Buchs bestand darin, im Modus der Verklärung von der Sachlichkeit zu erzählen – wenn man so will: die Verklärung zu verklären, um sie zu retten. Lieber eine Welt, die sich selbst weichzeichnet, als ein endloser Alltag.

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Ganz falsch wäre es daher, wenn man nun den Film von Christian Ditter deshalb doof fände, weil er allzu romantisch daherkommt. Das tut er, aber auf eine Weise falsch, die sich gleich in der allerersten Einstellung andeutet.

Wir sehen Menschen in einer Straßenszene, offenbar in Hast, aber die Zeit ist stehen geblieben, deshalb sind sie alle wie festgefroren an Ort und Stelle. Jemand im Anzug blickt auf seine Uhr, ein Mann und eine Frau brüllen sich mit verzerrten Gesichtern an. Die Szene ist in trübes, gräuliches Licht getaucht. Es ist ein Moment außerhalb der Zeit, aber kein Augenblick endloser Zeitfülle, sondern einer, in dem alle Zeit abgelaufen zu sein scheint. Außer für das kleine Mädchen, das plötzlich von außen in den Bildausschnitt hineingerannt kommt, unterwegs, um die Welt zu retten.

Die Welt ist grau, dann kommt die Magie – es ist dasselbe Muster wie in so vielen anderen Filmen

Das setzt den Ton. Wir befinden uns nicht in einem Märchen, das sich selbst verteidigt. Sondern in einer grauen Welt, in die das Märchenhafte von außen erst eintritt, in Gestalt von Momo. Es ist dasselbe Muster wie in so vielen anderen Filmen, in denen die Figuren gefangen sind in einem erstarrten, von praktischen Zwängen bestimmten Leben. Bis schließlich x passiert oder sie y treffen, und dann plötzlich lernen, dass man im Leben auch mal ein bisschen träumen und verrückt sein muss. So viele Annahmen über die Welt und ihre Verhältnisse stecken in dieser Erzählschablone. Sie einmal herumzudrehen, war das Besondere, das Magische an „Momo“. Regisseur Christian Ditter, der selbst die Drehbuchadaption geschrieben hat, ist das offenbar entgangen. Es dauert keine fünfzehn Minuten, da beginnt auch schon die dystopische Herrschaft der „Grey Corporation“.

In der Verfilmung von 1986, die Johannes Schaaf inszenierte, aß Momo da gerade Nudeln mit dem Straßenkehrer Beppo, danach blieb auch noch Zeit für ein Spiel der Kinder im Amphitheater. Es regnet, sie träumen, sie seien auf hoher See. Momo spielt eine Eingeborene und spricht in einer Fantasiesprache, wie im Buch. „Malumba oisitu sono! Erweini samba insaltu lolobindra. Kramuna heu béni béni sadogau.“ Nach Beratung mit seiner Schiffscrew bittet ein Junge sie, ein Schlaflied für den Orkan zu singen, damit der Regen aufhört. Er faltet die Hände und sagt inständig: „Malumba! Didi eisa walhuna babada.“

Für solche Szenen ist in der Neuverfilmung, nun ja: keine Zeit. Die Kinder müssen schließlich was lernen. Von Minute eins an erklärt eine Erzählerstimme, was die Menschen so alles verbockt haben und wie sie wieder zurück in das Märchenland überflüssiger Zeit kommen, von dem viel die Rede ist, das sich aber nie zeigt oder äußert, außer symbolisch, in Gestalt von Blütenblättern.

„Momo“ ist ein Film mit einem Thema, und das Thema lautet: Unsere Aufmerksamkeit wird geklaut. Schwebende Roboter versprechen den Kindern, sie pausenlos zu unterhalten und zu betüdeln, weshalb sie keine Freunde mehr bräuchten, so wie künstliche Intelligenzen das implizit versprechen. Momos Kumpel Gino beginnt eine Karriere als Influencer und vergisst über dem Ruhm seine Freunde. Die Erwachsenen kriegen „Greycelets“, die aussehen wie Fitnesstracker, aber auch wie von Apple-Designern entworfene Handschellen. Wenn man Zeit verschwendet, leuchten sie rot. Auf solche allegorischen Lehreinheiten verwendet der Film viel zu viel Zeit. Wo waren beim Drehbuchschreiben die Greycelets?

Alexa Goodall als Momo kann sehr verträumt zwischen ihren roten Locken hervorgucken, aber es wirkt ein bisschen zu berechnend, zu nahaufnahmenkompatibel. Sie ist kein Mädchen, das mit großen Augen alles anguckt, sondern eine junge, vielleicht schon zu sehr nach Teenager aussehende Schauspielerin mit einem „offiziellen“ Instagram-Kanal, die auch schon in der Miniserie „Ein Gentleman in Moskau“ (Paramount+) an der Seite von Ewan McGregor gespielt hat.

„Je langsamer, desto schneller“, lautete der Rat im Buch

Über den Film von 1986 wachte Michael Ende noch selbst. Er saß in einer Rahmenhandlung in einem Zug und las, wie sich das gehört, die Süddeutsche Zeitung. Ihm gegenüber saß die damals steinalte Regielegende John Huston, der Meister Hora spielte. Noch mal ein Direktvergleich: Im alten Film blickt Momo einen Vogel im Käfig an, der daraufhin zu zwitschern beginnt. Das habe er seit einem halben Jahr nicht getan, sagt die Frau, der er gehört, „und du schaust ihn nur an, und schon fängt er an zu singen“. Worauf Momo antwortet: „Ich glaube, man muss ihm zuhören, auch wenn er nicht singt.“

Im Film von Ditter fängt der Vogel plötzlich an zu singen, die Frau fragt Momo, wie sie das gemacht habe. Die sagt: „Ich hab einfach zugehört.“ Es ist aber nicht dasselbe, ob man zuhört, auch und gerade dann, wenn jemand nicht singt, also keine Leistung dafür erbringt, dass man ihm zuhört; oder ob man zuhört, damit der Angeguckte wieder singen kann, um sozusagen fit gemacht zu werden fürs Singen. Sofort jedenfalls lobt der Erzähler Momo für ihre Leistung in Sachen Zuhören. „Das konnte sie gut!“

Dreieinhalb Minuten später stehen trotzdem schon die grauen Herren auf der Matte. „Je langsamer, desto schneller“, sagt die Schildkröte Kassiopeia im Buch. Das Zitat hat es nicht in den Film geschafft.

Momo, Deutschland 2025 – Regie: Christian Ditter. Buch: Ditter nach dem Roman von Michael Ende. Kamera: Christian Rein. Mit: Alexa Goodall, Araloyin Oshunrem, Kim Bodnia, Martin Freeman. Verleih: Constantin, 91 Min. Kinostart: 2. Oktober 2025