
Nach dem Sturm tönt die Ruhe im Otto-Wels-Haus
besonders einschneidend. Uhren mit Normstrichziffernblatt ragen in die
niedrigen, dunklen und leeren Flure mit grauem Teppichboden und den
holzvertäfelten Wänden. Über das Haus Nummer 50 an der Straße Unter den Linden
steht auf der Website des Bundestages, es wirke „fast nur beiläufig
repräsentativ“.
Eine Untertreibung.
Hier, im vierten Stock, hat Johannes Arlt sein
Abgeordnetenbüro und ringt am Donnerstagmittag vergangener Woche mit der Welt. Arlt zeigt auf eine Karte Mecklenburg-Vorpommerns. Er
fährt die Ortsnamen im Süden ab. „Hier war alles noch okay“, sagt er.
„Hier auch. Und hier …“ Seine Hand streicht nun über die Dörfer in
der Mitte des Bundeslandes.
„Hier haben sie mich abbumsen lassen.“
In solchen Momenten kann Arlt noch immer nicht recht glauben, was da am Sonntag passiert ist. Als der SPD-Abgeordnete
den Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte II – Landkreis Rostock III an die AfD
verlor. 31,1 Prozent hatte Arlt bei der Bundestagswahl 2021 geholt. Um 19 Uhr zeichnete sich das verheerende Bundesergebnis ab, aber für seinen Wahlkreis sei er da noch zuversichtlich gewesen. Dann kam es: 19,6 Prozent. „Oh fuck“, habe er gedacht. Seine Gegenkandidatin von der AfD bekam mehr als doppelt so viele Stimmen.
Anwalt für den ländlichen Raum wollte Arlt sein
Arlt, 40, aber bubenhafte Züge, trägt schwarzen Rollkragenpulli und Seitenscheitel. Das Handgelenk des Berufsoffiziers ziert ein Armband, in das die gelbe Schleife für Solidarität mit der Bundeswehr eingewebt ist. Auf dem Handy warten seit Sonntagabend noch 150 ungelesene Whats-App-Nachrichten. Er blickt jetzt noch mal zurück auf die Mammutaufgabe, die
ihm gestellt wurde: Mit
6.277 Quadratkilometern
ist sein Wahlkreis zweieinhalbmal so groß wie das Saarland. 800 Dörfer und
Städte, aber keine 250.000 Einwohner. Viel Land, wenig Mensch.
Arlt hat es trotzdem versucht. Er hat mehr getan als der Durchschnittsabgeordnete, vier Wahlkreisbüros hatte er aufgemacht. Ein fünftes, ein Bus, fuhr vier Tage die Woche übers Land. Als „Anwalt für den ländlichen Raum“ wollte Arlt von den Leuten wahrgenommen werden, zeigen, dass da ein Politiker ist, der sie eben nicht vergessen hat. Im Zweifel habe er einen Termin auf dem Dorf einem in Städten wie Güstrow oder Neustrelitz vorgezogen, sagt er. Genützt hat es bei der Wahl nichts.
Auch nicht die fast 150 Millionen Euro Fördermittel,
die in vier Jahren in Berlin für die Region bewilligt wurden. Oder die 3.500
Besucher, vor allem Schüler, die er in den Bundestag eingeladen hat.
Sonntag war alles blau. „Ein Orkan“, sagt
Arlt. Ein Sturm, der über die dünn besiedelten Orte hinweggefegt ist.
Er hat einen Veteranentag durchgesetzt
Jetzt ist er einer von 98 SPD-Abgeordneten, die ihre Sachen packen, den Bundestag verlassen müssen. Von 121 Direktmandaten blieben der Partei nur 44 – in den fünf Ost-Bundesländern sogar nur eins. Fast alle hat die AfD erobert. An diesem Donnerstag steht er allein in seinem Abgeordnetenbüro – seine Berliner Mitarbeiter sind krank. Die Umzugskartons, in die passen muss, was sich in fast vier Jahren angehäuft hat, standen am Mittwoch einfach da.
Noch nicht gepackt ist das Laufgitter für seinen Sohn. Die Münzen aus seiner Zeit bei der Bundeswehr. Die Schatulle vom Seeheimer Kreis. Im Bundestag hat Arlt Verteidigungspolitik gemacht. Dass bald, am 15. Juni, erstmals in Deutschland ein nationaler Veteranentag begangen wird, geht auf ihn zurück. „Den wird es noch in 20 Jahren geben“, sagt er.
Arlt war als einer der ersten Abgeordneten gegen Scholz
In den Parteien läuft die Aufarbeitung, die SPD-Zentrale bilanziert in einem Papier, die Themen der Partei seien beliebt gewesen, die „Kompetenzwerte“ hingegen mies. Und: Nur ein Fünftel aller Wähler hätte wegen Olaf Scholz die SPD gewählt. Das hat Johannes Arlt geahnt. Er war einer der ersten SPD-Abgeordneten, die sich öffentlich für Boris Pistorius als Kanzlerkandidaten aussprachen. Als Offizier lerne man, seine Vorgesetzten
zu beraten, sagt Arlt. Aber er habe lediglich die Meinung der Bevölkerung und der Basis
wiedergegeben. „Mehr konnte ich nicht tun.“
Er war also gegen Scholz. Und die 150 Millionen Euro. Die unzähligen Termine. Die Büros. Die 30 Infoabende zum Heizungsgesetz und die Zeitungsartikel über das neue Wohngeld plus, das vier von fünf Rentnern in seinem Wahlkreis zustünde. Warum hat das nicht überzeugt? Arlt zögert nicht. „Wir haben die Menschen so sehr verunsichert, dass sie in erster Linie einfach nur eine andere Regierung wollen.“
Die Sitze im Bundestag sind noch nicht umgeschraubt
Und wenn es in den Dörfern keinen intakten Dorfplatz, keinen Konsum und keine Zeitungsabonnenten mehr gibt, komme man dagegen nicht an. Es fehle schlicht die „gemeinsame Plattform“, Orte, an denen die Menschen zusammenkommen können. Als Einzelner könne man da kaum einen Unterschied machen. In den Kopierräumen des Otto-Wels-Hauses lagert jede Menge frisches Papier. Die Stapel scheinen darauf zu warten, dass es weitergeht. Der neugewählte Bundestag soll Ende März seine Arbeit aufnehmen.