Neues Privatmuseum: Fondation Cartier von Jean Nouvel

Frankreichs Finanzen laufen aus dem Ruder, das Regierungsgeschäft ist eine tragische Posse, im Land herrscht eine Mischung aus Endzeitstimmung und vorrevolutionärem Fieber, bald könnten die Rechtsextremen an die Macht kommen. Aber Paris bleibt ein Fest fürs Leben. Die Lichterstadt scheint desto heller zu strahlen, je dichter der braune Pesthauch aufzieht. Bevor die Finsternis hereinbricht, wird die Kapitale am Samstag ihrer Kulturkrone einen weiteren funkelnden Klunker hinzufügen. Die Eröffnung von Jean Nouvels neuer Fondation Cartier dürfte die hauptstädtische Szene für Gegenwartskunst gewaltig bereichern.

Der Bau liegt in zentralster Lage, Louvre und Palais-Royal sind direkte Nachbarn. Der fünfstöckige, 153 Meter lange und bis zu 58 Meter breite Riese aus hellem Kalkstein wurde 1854/55 im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Weltausstellung aus dem Boden gestampft. Das Hôtel du Louvre bildete mit 1200 Zimmern eine Miniaturstadt und bot seiner kosmopolitischen Klientel neben Wasserklosetts auch Luxusboutiquen unter den ringsumlaufenden Arkaden. Eine davon wuchs sich zum – laut Werbung – „größten Warenhaus der Welt“ aus und verdrängte 1887 gar das Hotel aus den Mauern. Die Grands Magasins du Louvre waren derart immens, dass zur Beförderung von Kunden und Mitarbeitern zwei Brückenkräne und sogar zwei Eisenbahnen zum Einsatz kamen.

Eine Wohnmaschine à la Jules Verne

Nouvel knüpft an dieses Maschinen-Erbe à la Jules Verne an. Er hat das in den Siebzigern verbaute Gebäudeinnere entkernt und namentlich ein 85 Meter langes „Langhaus“ unter dreien der vier Innenhöfe freigelegt. Dort finden sich jetzt fünf 200 bis 363 Quadratmeter große Plattformen, die sich mittels einer Art zweckentfremdeter Theatertechnik mit Kabeln, Ketten und Seilscheiben über eine Höhe von elf Metern hinweg in jeweils elf Positionen anheben oder absenken lassen – und das unabhängig voneinander. Typisch Nouvel sind die vielen Durchblicke, zwischen Unter-, Erd- und Obergeschoss, zwischen Innen und Außen (via sieben Meter hohen Rundbogenfenstern aus einem Stück) und zwischen Himmel und Erde (mittels Glasdächern über den Innenhöfen, über denen Bäume wachsen und deren Lichtdurchlässigkeit motorgesteuerte Blenden regulieren).

Seine Kunst handelt von Gerechtigkeit und „wahren Weltkarten“:  Der kongolesische Maler Chéri Samba mit „La vraie carte du monde“ von 2011
Seine Kunst handelt von Gerechtigkeit und „wahren Weltkarten“: Der kongolesische Maler Chéri Samba mit „La vraie carte du monde“ von 2011Chéri Samba / Florian Kleinefenn

Der Titel der Eröffnungsausstellung verweist auf entsprechende kommerzielle Veranstaltungen der 1974 geschlossenen Grands Magasins du Louvre: „Exposition géné­rale“. Offiziell wird die Schau durch vier Themen strukturiert. Doch ist kaum je klar, in welcher Sektion man sich gerade befindet. Die Themenbereiche sind je in zwei bis vier Kapitel unterteilt und diese über zwei oder drei Stockwerke hinweg verstreut, gemischt unter zwei Dutzend monographische Streiflichter. Sechshundert Stück Tapas, Mezze und Sakuski, auf großen Platten und kleinen Tellern angerichtet (und diese wiederum auf drei Tafeln dekorativ arrangiert), bilden kein durchkomponiertes Menü. Da hätte man die Besucher lieber frei durch den Bau flanieren lassen sollen. Denn der Erkundungsgang macht Spaß: Es geht nach unten und nach oben, von Lynch nach Merz, der Parcours führt über Endlosgänge in Sackgässchen, vom Licht ins Dunkel und vom Lauten ins Leise. Das sehr spezielle Profil der Sammlung tritt auch ohne forcierte Verklammerung klar zutage.

4500 Sammlungstücke und Auftragswerke

Die Kollektion zählt heute 4500 Stücke, die mehrheitlich anlässlich von Ausstellungen der Fondation Cartier erworben wurden – bei vielen handelt es sich sogar um Auftragswerke. „Exposition générale“ bildet so einen von vielen möglichen Rundgängen durch die vier Jahrzehnte seit der Gründung der Stiftung. 1984 durch Alain Dominique Perrin ins Leben gerufen, der ihr bis heute präsidiert, ließ sich diese zunächst in einem 18 Hektar großen Anwesen bei Versailles nieder. Dort bespielte sie – recht barock – ein Directoire-Schloss, ein pseudonormannisches Dörfchen und ein ehemaliges Blockhaus der Luftwaffe, den prächtigen Park nicht zu vergessen.

Cartier-Taschen sind das aber nicht: Ron Muecks „Woman with Shopping“ von 2013 trägt das Kind eng am Leibe.
Cartier-Taschen sind das aber nicht: Ron Muecks „Woman with Shopping“ von 2013 trägt das Kind eng am Leibe.Patrick Gries

Gegenwartskunst war seinerzeit – nicht nur in Frankreich – eine Angelegenheit für Spezialisten, Eingeweihte, Zeloten dieses oder jenes Dogmas – und für den Staat. Die Fondation Cartier als Privatinstitution mit einem eklektischen Programm ohne Scheuklappen noch Berührungsängste verstörte da. Doch gerade ihre vermeintlichen Schwächen wurden peu à peu zu Stärken. Als die Stiftung 1994 aus der Peripherie nach Paris zog und aus einem zusammengestupften Landgut in einen maßgeschneiderten Neubau von Jean Nouvel am Boulevard Raspail, verkörperte sie für viele bereits Trendigkeit ohne Attitüden und Avantgardismus ohne Kopflastigkeit.

Von Zeichnungen der Yanomami bis zu Brot-Kleidern von Gaultier

Zwischen ihren Glaswänden – Mauern gab es nicht – bestaunte man Fotos von Kreationen nigerianischer Haarstylisten, im Raum auf und ab wallende Miyake-Plisseekleider, explodierende Ausstellungskataloge, Zeichnungen von Yanomami-Indianern, Glasperlen-Himmelbetten und einen bunten T-Rex aus Tokio, wohnte einem Livegespräch zwischen dem Comic-Künstler Moebius und einem Astronauten in der Raumstation Mir bei oder einem Duoauftritt von Patti Smith und John Cale. Die fünf Ausstellungen des Jahres 2004 vermitteln einen guten Eindruck von der Freiheit und Verrücktheit des Programms, das sukzessive Marie-Claude ­Beaud und Hervé Chandès verantworteten, bevor Chris Dercon 2023 den Staffelstab übernahm.

Wie von De Chirico gemalt: Die markanten Arkaden außen nahm Jean Nouvel im Innern der Fondation Cartier pour l’art contemporain elegant wieder auf.
Wie von De Chirico gemalt: Die markanten Arkaden außen nahm Jean Nouvel im Innern der Fondation Cartier pour l’art contemporain elegant wieder auf.Martin Argyroglo

Erst entwarf der Designer Marc Newson da unter anderem einen Jet für die Stiftung, dann zeigte der Kongolese Chéri Samba – heute ein Star – fünfunddreißig farbenfroh-figurative Malereien, ihm folgte der Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier nach mit Kleidern aus Brot, bevor Raymond Depardon und Hiroshi ­Sugimoto das Jahr mit Kurzfilmen über sieben Metropolen zwischen Berlin und Addis Abeba beziehungsweise mit einer fotografischen Hommage an Marcel Du­champs „Großes Glas“ und an Jean Nouvels Glashaus ausklingen ließen.

Was aus Letzterem wird, muss der Besitzer entscheiden – die Fondation Cartier war am Boulevard Raspail nur Mieterin (und ist es auch in ihrem neuen Heim am Louvre). Die Stiftung erklärte der F.A.Z., sie kommuniziere nicht zu Finanziellem; in der französischen Presse stand zu lesen, Nouvels Umbau habe zwischen 225 und 245 Millionen Euro gekostet. Die Riesensumme spiegelt die Quasi-Verfünffachung der Ausstellungsfläche auf 6500 Quadratmeter wider. Damit verfügt das Haus über ungleich mehr Raum als Bernard Arnaults Fondation Louis Vuitton und François Pinaults Bourse de commerce.

Einzig Maja Hoffmanns Stiftung Luma in Arles gebietet in Frankreich über noch größere Schauflächen, freilich verteilt auf mehrere Gebäude. Wird die Fondation Cartier, deren bisheriges Motto „mittelklein, aber superfein“ lauten könnte, nach ihrem Aufstieg in die Riege der Big Player der Gefahr der Institutionalisierung und Normalisierung entgehen können?

Exposition générale. Fondation Cartier, Paris; bis 23. August 2026. Der Katalog kostet 55 Euro.