„Bei meinen Konzerten sehe ich immer eine Mischung aus sehr jungen FLINTA-Personen mit bunten Haaren und eher älteren Musikliebhabern“, erzählt die Chemnitzer Künstlerin Gwen Dolyn. Die 30-Jährige hat für das Gespräch ein Café in Berlin gewählt, das ihr viel bedeutet. „Da hinten“, sagt sie und zeigt am Tresen vorbei in den Gastraum, habe sie immer gesessen und Apfelschorle oder Americano getrunken, bis 2019 lebte sie um die Ecke.
Heute bestellt sie vegane Snacks ohne Knoblauch (da allergisch) und einen doppelten Espresso (da müde) und erzählt von ihrer Vergangenheit. Schon als Kind wollte Gwendolyn Schneider-Rothaar immer „besonders“ sein. „Das ist bis heute vielleicht meine größte Motivation – und zugleich mein größtes Manko,“ sagt sie.
In ihrer Jugend im hessischen Darmstadt war sie „immer das einzige Mädchen unter Jungs, die Musik machten“. Schließlich der Umzug nach Berlin. Dort traut sie sich erstmals auf die Bühne. Veröffentlicht 2020 erste eigene Songs mit englischem Gesang. Deutsch sei ihr zu cringe gewesen. Sie zitiert Tocotronic: „Über Sex kann man nur auf Englisch singen.“
Ihre eigene Musik liefert intime Einblick in Liebesleben und Ängste. Wobei Singen nicht ihre einzige Ausdrucksform ist: Sie arbeitet auch als Schauspielerin, malt Illustrationen und ist nun im Podcast „NACKT im Kopf“ zu hören, den sie mit der Musikerkollegin Christin Nichols bestreitet. Tierärztin wollte sie zunächst werden, aber hatte das dafür obligatorische Praktikum auf einem Schlachthof wieder verworfen: „Das könnte ich nicht.“
Blut und Sehnsucht
Bereits 2023 veröffentlichte sie, nun in Chemnitz ansässig, gemeinsam mit Kraftklub-Gitarrist Steffen Israel als Duo Tränen das Album „Haare eines Hundes“, 2024 folgte ihr Debütalbum als Solistin: „X-RATED Feelings“, weniger Konzeptalbum als Collage. Jeder Song ist Teil eines Gefühlspuzzles. „X-RATED“ steht dabei für Zensur. In der Textwelt, findet sie, sollte unbedingt Raum sein für „Dinge, die ich sonst nie sagen würde.“ So singt sie im Song „Blut auf dem Rasen“ über unerwiderte Liebe, in „Ertrinken“ geht es um Sehnsucht.
Wer sich in der Gwen Dolyn-Diskografie auskennt, wird über „Well Educated Brat“ stolpern – die Neufassung ihres allerersten, kommerziell erfolgreichen Songs „Well Educated“ (2020). Obwohl sie am Arrangement nichts verändert hat, klingt ihre Stimme nun erwachsener, wenn sie über sozialen Anpassungsdruck singt. Der mutigste Song des Albums ist ein leicht zu überhörender: „After you left my Body“. In den Zeilen verarbeitet Gwen Dolyn einen Schwangerschaftsabbruch. Bei Konzerten komme es dann immer zu bewegenden Momenten. Sie zeigen, dass Musik auch durch gemeinsames Weinen verbinden kann.
Mal klassischer Indie-Rotz, mal punkig, mal Techno-angehaucht, mal Englisch, mal Deutsch, lädt Gwen Dolyn dazu ein, eine Skala von Gefühlen zu durchleben: Tiefe Seufzer, seichtes Genießen oder wildes Tanzen. „Das wichtigste Instrument, das die Musik zusammenhält, ist meine Stimme“, sagt Gwen und lacht. Eine Stimme, die häufig so nah und direkt klingt, als würde sie einem ins Ohr flüstern.
Ihre Stimme klingt häufig so nah und direkt, als würde sie einem ins Ohr flüstern
Ihr Look ist das Gegenstück zur ungeschminkten Musik: glitzernder Blazer, Haare und Strümpfe pastellrosa, die Lippen dunkel. Aufgeklebte Augenbrauenpiercings komplettieren den Mix aus Fairycore und Berliner Style. Gwen Dolyn ist eine Erscheinung, die man nicht übersehen kann. Es sei befreiend, sich in die Bühnenkunst zu stürzen – das alles offenbarende Scheinwerferlicht als Safespace. Gleichzeitig kämpfe sie als FLINTA-Person ständig mit den Urteilen anderer.
Interessant ist auch der Bezug zu ihrer Wahlheimat Chemnitz. Die sächsische Industriestadt biete ihr wohltuende Ruhe, günstige Miete und eine hilfreiche kreative Basis. Schließlich arbeiten vor Ort viele weitere Musiker:Innen – darunter auch der Blond- und Tränen–Kollege Steffen Israel. Ob es sie manchmal nerve, auch als Solistin zum Dunstkreis von Kraftklub gezählt zu werden? „Ja.“ Gibt sie zu, spricht aber im selben Atemzug über die empowernde Zusammenarbeit als Duo. Sie sei dennoch froh, nicht nur in Chemnitz zu sein. „Sau viele Faschos“ gebe es dort schließlich auch.
Bald wird sie Chemnitz wieder für einige Wochen verlassen, um erneut auf Tour zu gehen. Die Vorfreude? „Mittel“, entgegnet die junge Musikerin umwerfend ehrlich, in Social Media und auf der Bühne. Eine Konzertreise, gerade im Winter, bedeute für sie einen enormen Energieaufwand. Dazu noch die Limitierungen, die alle Indie-Künstler:innen beschäftigen. Mit Blick auf finanzielle Möglichkeiten konnte sie ihre Shows nicht zu 100 Prozent gestalten, wie sie es gerne hätte: vom Bühnenoutfit bis zur Anzahl der Backingbandmusiker:innen. Dennoch: Auf Fans und Bühnenfassung der Songs freue sie sich sehr.
Während sie spricht, kommt im Café ein Akkordeonist vorbei und fängt zu spielen an. Gwen unterbricht ihre Erzählung: „Ich geb dem mal was, der macht ja schließlich Musik.“
