
Auch ein robuster Körper kann eine fragile Persönlichkeit beherbergen. Im Spannungsfeld dieses Gegensatzes bewegt sich Helene Hegemanns Roman „Striker“. Identität ist hier so brüchig, dass wir von der Protagonistin zunächst keinen Namen und schließlich nur das Initial ihres Vornamens, N, erfahren. Ns Körper hält einiges aus. Gleich auf der ersten Seite schmeißt Jürgen, ihr Trainer, einen Medizinball gegen ihren Bauch. Vierzigmal prallt das Leder von der Bauchdecke der Athletin ab. Es macht ihr nichts aus. Auch die Prügel, die sie während ihres Kampftrainings einsteckt, spürt sie kaum. Schmerzen kann sie ignorieren. Ihren Geist nicht. Denn was ihr wirklich zu schaffen macht, ist die Angst. Die Frau, der sie bei ihrem nächsten Kampf gegenübertreten soll, hat sie beim letzten gemeinsamen Fight k.o. geschlagen. Das sitzt tief; ihr Trainer merkt es, sie selbst will sich dieses Gefühl lieber nicht so genau ansehen. Sie deckt es mit Alltag, mit Training, mit Sex zu.
Trotzdem schreckt sie nachts aus dem Schlaf. Da sind Geräusche, jemand geht auf dem Dachboden über ihrer Wohnung im Kreis. Als sie am Morgen aus dem Fenster schaut, ist die Brandmauer, auf deren graue Fassade sie sonst blickt, mit schwarzen Zeichen bedeckt. Eine Weile taucht N in der Suche nach dem Urheber der Graffitis unter. Überall fallen sie ihr plötzlich auf. Auf den Fahrten mit der S-Bahn von ihrem heruntergekommenen Viertel in den schicken Stadtteil, in dem die Politikerin lebt, mit der sie eine Affäre hat, entdeckt die Kämpferin auf den vorbeirauschenden Häusern die gesprayten Kunstwerke, die ähnlich großflächig angelegt sind wie die Zeichen auf der benachbarten Brandmauer. Nachts durchsucht sie das Internet nach Hinweisen, verliert sich im Anschauen von Videos.
„N verliert ihre Generation gerade an Instagram“
Eine ähnliche Obsession entwickelt sie zu den digitalen Auftritten ihrer Herausforderinnen: „Wenn N sich auf ihrem Handy keine Kämpfe ansieht, ruft sie die Profile ihrer Gegnerinnen auf und verfolgt minutiös die Spirale des Ausverkaufs, in der sie sich innerhalb der letzten fünf bis zehn Jahre verheddert haben.“ N hat an diesem Ausverkauf nicht partizipiert. Das Netz fängt sie dennoch immer wieder ein, frisst Freizeit, gibt ihr neues Futter für ihre Unruhe. An anderer Stelle heißt es: „Jack Kerouac hat seine Generation an den Wahnsinn verloren. N, die Jack Kerouac nicht kennt, aber mögen würde, verliert ihre Generation gerade an Instagram.“

Die Protagonistin aber geht dort nicht verloren, denn sie war nie richtig da. Obwohl man ihr dabei folgt, wie sie durch die nächtliche Stadt treibt, ihre Affäre trifft oder reiche Geschäftsleute beim Kampfsporttraining zum Schwitzen bringt, bis ihre eigenen Klamotten die nassen Gerüche der Männer aufgesogen haben, bekommt man N kaum zu fassen – mehr Gespenst als fühlendes Wesen, driftet sie durch ihr Leben. Wer sie ist, woher sie kommt, was sie zu ihren Handlungen motiviert, bleibt im Unklaren. Das ist kein Lapsus der Autorin, Hegemann beweist in ihrem vierten Roman, dass sie weiß, was sie tut. Die Unschärfe ist pure Absicht. Die Unsicherheit der Identität erschüttert den ganzen Text, schlägt sogar bis auf die Ebene des Erzählers durch. Schon der erste Satz ist eine Frage: „Ist die Jahreszeit wichtig?“, die sich der Erzähler so halb motiviert selbst beantwortet: „Ja, wahrscheinlich.“
Einsamkeit, die sich vor allem in der Großstadt breitmacht
Wenn die Protagonistin sich an einen Traum erinnert, bemerkt der Erzähler, dieser „könnte für die Geschichte“ wichtig sein, sicher ist er sich nicht. Und wenn N nachts am Smartphone einen Shopping-Marathon bei Zara Home veranstaltet, kommt auch da nur ein vager Einordnungsversuch ihren Motiven nahe: „Vermutlich geht es bei diesem Kaufrausch um Kontrolle.“ N bleibt ein Phantom, was sich besonders deutlich zeigt, wenn es um die Menschen geht, die mit ihr zu tun haben. Denn an der gleichen Stelle heißt es: „Dieselbe Kontrolle, die sich die Politikerin, mit der sie schläft, zurückzuerobern glaubt, wenn sie manisch, als ginge es um den NATO-Doppelbeschluss oder eine OP an ihrem eigenen, offenen Herzen, sämtliche Oberflächen in der Jugendstilvilla ihres Ex-Mannes mit Neutralreiniger abwischt.“ In diesem Satz fügt sich elegant ein komplettes Psychogramm der Politikerin zusammen. Für N bleibt eine solche Erklärung aus.
Hegemann treibt das Mysterium um ihre Hauptfigur auch formal auf die Spitze, wenn sie etwa deren Kampfmantras auf jeweils eine einzelne Seite setzt: „Es geht hier nicht um dich“, „Du bist nicht so wichtig“ und „You are worthless“. Die Sätze stehen wie Motti allein am Seitenkopf als einsame schwarze Zeile in einem Meer von Weißraum. So herausgehoben, stoppen sie den Lesefluss, treffen wie Boxerschläge und erinnern zugleich an das Störbild des Graffiti auf der Brandmauer.
„Striker“ erzählt von der Einsamkeit, die sich vor allem in der Großstadt breitmacht. N ist aus der Gesellschaft gefallen, unfähig zur Kommunikation mit ihren Mitmenschen. Oder sind die Mitmenschen unfähig geworden, miteinander zu reden? Konsum und soziale Medien betrachtet der Roman als Erscheinungen des zivilisatorischen Niedergangs. Die Reibungsfläche, an der N letzte Reste von Wahrhaftigkeit findet, sind die Obdachlosen in ihrem Viertel: „In der unmittelbaren Gegenwart von Pennern, besonders denen, die die Straßenecke vor ihrem Haus als ihr Territorium besetzt halten, die sie über Monate hinweg beobachten konnte und deshalb zu kennen glaubt, kriegt die Glasglocke, unter der sie sich durch die Stadt schleppt, feine, kleine Risse, als ob sie in einem von der übrigen Welt getrennten Ökosystem existiert und nur deshalb noch ab und an zu Atem kommt, weil durch diese von den Pennern verursachten Risse frische Luft hineinströmt.“
Die junge Frau fühlt sich den Pennern näher „als den Hipstern, die morgens für schwarze Croissants Schlange stehen, an dem Deli, das vor einigen Monaten angefangen hat, jedem noch so uninteressanten Stück Teig eine Messerspitze Aktivkohle beizumengen und dadurch inzwischen seinen Umsatz verdreifacht“.
Als eine Obdachlose ihre Tüten direkt vor Ns Wohnungstür abstellt, verfällt die Boxerin in Panik. Die Obdachlose sieht ihr ähnlich. Sie spricht von einer Verbundenheit, die sie zu N spüre. Und N hat das Gefühl, sich endlich selbst gegenüberzustehen. Jeden Doppelgänger-Grusel schaltet der Roman aus: „Das hier ist nicht Fight Club. Das hier ist kein Film, in dem am Ende offenbart wird, dass da eine gespaltene Persönlichkeit die ganze Zeit gegen sich selbst gekämpft hat.“ Stattdessen muss N sich endlich auf die Suche nach sich selbst begeben, und dafür muss sie ihr Leben für andere öffnen.
Helene Hegemann: „Striker“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 189 S., geb., 23,– €.