Neuer Roman von Dorothee Elmiger: Der ekstatischen Wahrheit nahe

Erinnert sich noch jemand an Elisa Lam? Der mysteriöse Tod der Kanadierin, die man Wochen nach ihrem Verschwinden nackt in einem Wassertank eines Hotels in Los Angeles entdeckte, hatte 2013 für heftige Spekulationen im global village, dem World Wide Web, gesorgt. Irritationen hatte vor allem ein Überwachungsvideo ausgelöst, das Lam im Hotelfahrstuhl zeigte, scheinbar mit einer körperlosen Erscheinung im Gespräch.

Es waren gute Jahre für Verschwörungstheorien, die zehner Jahre, als körnige Video- und Bildaufnahmen noch Raum für Spekulationen ließen, kurz vor der vollständigen digitalen Kartografierung aller menschlichen Bewegungen durch Netz und Raum.

Ähnlich wie Elisa Lam hielt das Internet ein Jahr später auch das Schicksal zweier niederländischer Frauen beschäftigt. „Die Holländerinnen“, wie Dorothee Elmiger in ihrem neuen Roman leicht verfremdet aufblättert, verschwanden nach einer Wanderung im lateinamerikanischen Urwald. Rätsel gab dabei eine gefundene Digitalkamera auf, die 91 hintereinander aufgenommene Fotos zeigte – ohne dass klar wurde, was die Frauen versucht hatten festzuhalten. Ein Schatten, der sich auf die letzten Stunden der Holländerinnen legte und schon nicht mehr zum Leben gehörte.

Diesem Fall will in Elmigers Roman ein Theatermacher nachgehen. Nachspüren, nein, nachspielen soll die letzte Wanderung der Frauen eine Crew aus Kulturschaffenden, darunter eine Schriftstellerin, die die Erfahrung im Dschungel in eine tiefe Schreibkrise stürzt, von der sie nun, einige Jahre später, berichtet.

Der Roman

Dorothee Elmiger: „Die Holländerinnen“. Hanser, München 2025, 160 Seiten, 23 Euro

Besagter Theatermacher steht in einer gewissen Tradition der Hybris, gibt zu, dass es auch Werner Herzog war, der ihn zu der Odyssee inspirierte. Es geht Elmigers Theatermacher denn wohl weniger um Detektivarbeit als um das Herstellen „ekstatischer Wahrheit“, die auch Herzog in Bezug auf den antiken Philosophen Longinus als wesentlich für seine kreative Arbeit benennt.

Im Mittelpunkt steht die Mimesis

Man taucht tief ein in die Kultur- und Philosophiegeschichte in Dorothee Elmigers Roman, zieht insbesondere bei den Griechen einige Schleifen. Es ist vor allem die Mimesis, die „Nachahmung“, der die Schweizer Schriftstellerin mit ihren Nachforschungen zu Leibe rückt. Weiter als mit Aristoteles kommt man hier allerdings mit der Frankfurter Schule: Der Mensch wird zum Menschen erst, indem er andere imitiert, doch tritt die Nachahmung letztlich in den Dienst der Herrschaft.

In der „Dialektik der Aufklärung“, die auch im Camp im Dschungel als welliges Taschenbuch herumliegt, schreiben Adorno und Horkheimer, wie das Projekt der Aufklärung die Beherrschung und Nutzbarmachung der Natur bedeute.

Zeitweilig ist es im Roman freilich eher die Natur, die den Menschen unterwirft, wenn die Eu­ro­päe­r:in­nen ohne Handyempfang durch den zunehmend sumpfigeren Urwald stapfen. Doch die Tendenz geht klar in die andere Richtung, wenn der Mensch Theater spielt oder ein Boot über einen Berg im von zivilisatorischen Übeln wie Errungenschaften unbehelligt gebliebenen Regenwald schleift.

Ador­no und Horkheimer bleiben bei der Natur allerdings nicht stehen: Die Befreiung des Menschen von der Beherrschung durch die Natur führt über die Herrschaft über die Natur letztlich zur Herrschaft des Menschen über den Menschen.

Kolonialismus und Nord-Süd-Gefälle

Wer auf das gute Leben hoffen darf, darüber entscheidet im 21. Jahrhundert immer noch der Kontostand, zum großen Teil aber auch der Pass. Elmiger hat sich schon in ihrem vorangegangenen Roman „Aus der Zuckerfabrik“ mit Kolonialismus auseinandergesetzt. Auch „Die Holländerinnen“ schneidet Machtverhältnisse an (ruft Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ ins Gedächtnis), zwischen Ortsansässigen und den Eu­ro­päe­r:in­nen oder einem generellen Nord-Süd-Gefälle, etwa wenn der Theatermacher ein Passionsspiel auf einer griechischen Insel aufführt, mit echten Geflüchteten – nicht das erste Mal übrigens, dass man sich an den Schweizer Theaterregisseur Milo Rau erinnert fühlt, der Ähnliches in Italien tat.

In Elmigers nun viertem Buch klingt der Ton aus der „Zuckerfabrik“ an. Sie sehe überall Zeichen und Zusammenhänge, beklagt die Erzählerin darin noch, wohingegen sich die Erzählerin jetzt um Zusammenhänge eigentlich keine Gedanken zu machen bräuchte. Was auf ihrer Reise Recherche, was schon Material ist, das gerät von Anfang an durcheinander. Ihre Aufgabe, so erzählt es die Erzählerin, sei jedoch nur das Protokollieren von allem gewesen.

Die Auftragsbeschreibung ist daher kongruent zu Elmigers eigener Programmatik. In einem Text zog Elmiger einmal die Verbindung zwischen Sammeln und Schreiben, bezugnehmend auf Ursula K. Le Guins Erzähltheorie der „Carrier Bag Fiction“. In der Tasche, der „Carrier Bag“, sind die Dinge in Unordnung, schreibt sie. Hierarchien gebe es nicht, die Logik der Tasche sei eine des „und“.

In den „Holländerinnen“ schlägt sich dieses „und“ auf der Handlungsebene nieder. Durchgehend werden Erinnerungen an seltsame Begebenheiten hervorgekramt, die sich aber in keiner Pointe auflösen. Zurück bleibt lediglich ein mulmiges, ein saures Gefühl. Es ist wohl auch Jean Baudrillard, auf den Elmiger rekurriert, wenn sie „einige französische Soziologen, deren Werk sie selbst stets nur gestreift habe“, erwähnt: Alle Zeichen lassen sich untereinander austauschen, nur nicht gegen das Reale.

Netz aus Verweisen

In Elmigers Netz aus Verweisen, in dem sich zu verlieren großes intellektuelles Vergnügen bereitet, stehen die Zeichen, so sie erwähnt werden, kursiv. Ziemlich genial ist schließlich die Szene, in der der Theatermacher nach echten Zeichen in der Landschaft sucht, die Hinweise auf den Tod der Holländerinnen geben könnten. Es ist erst hier im Wald, als der Erzählerin bewusst wird, dass ihre Irrwege auf keine „Auflösung“ zulaufen.

Wohin es hingegen führt, wenn sich die Zeichen zu einer regelrechten Zeichenpsychose verwachsen, zeigt Elmiger in einem der zahlreichen Nebenstränge, die wie auch schon im Buch zuvor das Wurzelwerk bilden, das die Lektüre ihrer Texte so ungemein fruchtbar macht.

Nach einer fehlerhaften Kühlschrankreparatur verschanzt sich ein New Yorker Ehepaar aus Scham in der Wohnung, produziert einen „Hypertext aus der Belagerung“ und verliert sich in Recherchen zur Kobaltförderung im Kongo, bis schließlich die Wohnung in Brand gerät. Wie bei den Fotos auf der Kamera der Holländerinnen lassen sich auch bei dem Ehepaar die letzten Spuren im Digitalen nachvollziehen: Statt eines Abschiedsbriefs hinterlassen die beiden nur einen irrwitzigen Browserverlauf.

Dass, wer gesund bleiben will, einen gewissen Abstand zur Zeichenwelt gewinnen muss, macht Elmiger schon in der Erzählhaltung deutlich. „Die Holländerinnen“ wird in indirekter Rede erzählt, und überhaupt: Ist die Figur des Erzählers nicht „uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes“? Elmigers Erzählerin kapituliert schließlich vor den Zeichen, ihr Schaffen befindet sich in einem Prozess der Auflösung.

Doch es ist ein bartlebyisches Nicht, dem dieser Vorgang folgt. Die Erzählerin begibt sie sich so in Opposition, erklärt sich zur Gegnerin eines Zuviel, eines Immermehr an Eindrücken, Deutungsmustern. Widerstand, zu dem Gedanken regt „Die Holländerinnen“ an, kann sich heute vielleicht ausschließlich im Passiv abspielen.