Neuer Digitalminister: Erwarten Sie Wunder!

Abstrakte Ziele brauchen konkrete Maßnahmen. Wer sich wie Karsten Wildberger die Modernisierung des Staates vornimmt, läuft Gefahr, sich im Grundsätzlichen zu verlieren: Leicht lässt sich eine bessere Zusammenarbeit, gar ein neues „Mindset“ in der Verwaltung fordern; an die Vernunft der Partner in Bund, Ländern und Kommunen haben schon viele appelliert. Die Erfahrungen der Vergangenheit dazu sind allerdings ernüchternd. Es lassen sich zwar für alle staatlichen Dienstleistungen digitale Lösungen bauen, vielfach gibt es sie schon längst. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Die Einsicht in die Mängel der deutschen Kleinstaaterei hat bisher nicht dazu geführt, dass liebgewonnene Prozesse aufgegeben und für das große Ganze geopfert wurden. Ganz im Gegenteil: Es macht jeder weiter wie bisher.

In dieser Situation greift Wildberger in seiner nun vom Kabinett beschlossenen Modernisierungsagenda zu jedem Strohhalm, mag er angesichts der digitalen Rückständigkeit im Land noch so zerknittert erscheinen. Über die Online-Zulassung neuer Autos reden wir schon seit Jahrzehnten – und doch steht sie ganz am Anfang der Liste der Projekte. Auf einen digitalen Auszahlungsmechanismus für staatliche Leistungen warten wir spätestens seit der Corona-Krise, jetzt ist er fast da. Ein aufgeblähter Beamtenapparat, ein Silodenken in den Ministerien und schlecht gemachte Gesetze ohne Rückkopplung in die Praxis treiben Unternehmen schon seit Langem in den Wahnsinn. Da löst die Wiederkehr des Altbekannten den immer gleichen Reflex aus: Es wird sich ohnehin nichts ändern.

Und doch ist einiges anders. Nicht zuletzt Karsten Wildberger selbst, der an allen Ecken wacker gegen die administrativen Windmühlen kämpft. Man darf vermuten, dass er sich beim Wechsel von den Chefsesseln international agierender Konzerne in ein provisorisch eingerichtetes Ministerbüro keine Illusionen gemacht hat. Aber die Wucht der Bedenkenträger über alle föderalen Ebenen hinweg dürfte auch ihn überrascht haben. Sie dominieren ein Land, das sich selbst nur noch wenig zutraut; in dem beharrlich jedes Schlagloch gezählt wird, selbst wenn schon etliche repariert wurden.

Ein Minister mit Ambitionen

Wildberger, das muss man ihm hoch anrechnen, unterliegt nicht der Versuchung, die Latte tiefer zu hängen, nur weil die Bundesregierung sie reißen könnte. Das zeigt sich in zwei Bereichen: In den 40 Seiten der Modernisierungsagenda reiht sich Vorhaben an Vorhaben mit klaren Zeitvorgaben. 36 Monate sind für eine EU-konforme digitale Brieftasche vorgesehen, in der die Bürger ihre Personalausweise, Führerscheine und Flugtickets aufbewahren können, am besten mit Bezahlfunktion. Ein App-Store für die Kommunen, der „Deutschland-Stack“, in 24 Monaten. Der Zustimmungsvorbehalt, mit dem Wildberger seinen Ressortkollegen bei IT-Projekten in die Parade fahren darf, wenn die Projekte sich als überflüssig oder gar kontraproduktiv erweisen, soll in zwölf Monaten etabliert sein.

Angesichts der bisherigen Erfahrungen dürften die meisten Vorgaben kaum zu schaffen sein. Noch ist sein Ministerium schließlich nicht vollständig arbeitsbereit, die Umverteilung der Abteilungen zwischen den Häusern gestaltet sich zäh. Aber vielleicht gelingt es doch: Kanzler und Vizekanzler teilen ebenfalls die Auffassung, dass es so nicht weitergehen kann. Das lässt Hoffnung aufkeimen.

Der zweite Bereich, in dem Wildberger Mut beweist, ist die schwierige Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Eine weitere Modernisierungsagenda ist auch hier noch nötig, aber der Politikneuling schlägt schon jetzt erste Pflöcke ein. Deshalb ist die viel belächelte Online-Zulassung für neue Autos eher ein Symbol als ein Meilenstein. Warum sollten 400 Zulassungsbehörden im ganzen Land weiter wie bisher darauf beharren, ein eigenes Portal für diese Verwaltungsdienstleistung bereitzustellen, wenn das Kraftfahrt-Bundesamt die Dinge einfacher in die Hand nehmen kann?

In Zeiten, in denen die Kommunen in einer derart schlechten finanziellen Verfassung sind, können sie sich gar nicht mehr leisten, auf ihrer Zuständigkeit zu beharren. Womöglich ist jetzt die Zeit reif, liebgewonnene Vorgärten an den Bund abzutreten. Dem Föderalismus tut das keinen Abbruch – im Gegenteil.

Auf der Kabinettsklausur in der Villa Borsig ist es jedenfalls schon einmal gelungen, Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Jetzt darf Wildberger der Mut nicht verlassen, die Umsetzung muss schonungslos vorangetrieben und überwacht werden. Besser wäre umgekehrt, dass sich möglichst viele an dem hohen Anspruch ein Beispiel nehmen. Wer keine Wunder mehr erwartet, der schafft auch keine.