Neue US-Sicherheitsstrategie: Europa zwischen allen Fronten

Wieder ein inszenierter Schicksalsmoment, diesmal XXL – und das in Berlin. Seit Monaten sieht man Anführer Europas zusammensitzen, im Zugabteil nach Kiew, auf den Sofas im Oval Office, zuletzt in der Londoner Downing Street. Aber an diesem Montag wird wohl halb Europa in der deutschen Hauptstadt versammelt sein. Nicht nur Friedrich Merz, Emmanuel Macron und Keir Starmer wollen sich um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj scharen, auch Giorgia Meloni aus Rom, Donald Tusk aus Warschau und weitere Staats- und Regierungschefs sollen anreisen.

Von einer „Show of European Unity“ ist die Rede im Kanzleramt – bewusst auf Englisch, denn die Botschaft der europäischen Einheit soll ja nicht nur in Moskau ankommen, sondern auch in Washington. Die Amerikaner sollen wohl auch dabei sein. Intensiv verhandeln die Ukrainer gerade mit ihnen und versuchen, die fragwürdigen Friedensideen, die zwischen Washington und Moskau erarbeitet wurden, in ein für sie akzeptables Format zu bringen.

Gelänge es, würde also ein Kompromiss gefunden, den die Amerikaner glauben, Russland vorlegen zu können, könnte der Montag zu einem historischen Tag werden. Missglückt es, wollen die Europäer zumindest Solidarität mit Selenskyj demonstrieren; einmal mehr.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Mit aller Macht versucht der deutsche Bundeskanzler, willige Europäer zusammenzubringen und sie als Akteure im Spiel zu halten. Fast alle Initiativen des zu Ende gehenden Jahres gingen von ihm aus. Aber in Abwandlung eines Bundespräsidentenwortes muss man konstatieren: Der Wille ist stark, doch die Möglichkeiten sind begrenzt. Immer wieder gelingt es den Europäern, im amerikanisch-russischen Verhandlungsprozess aufseiten der Ukraine und im eigenen Interesse einzugreifen, aber genauso oft müssen sie erkennen, dass die Erfolge von kurzer Dauer sind.

„Sie reden viel, aber sie liefern nicht“

Während Helmut Kohl beim letzten großen Umbruch Europas den „Mantel der Geschichte“ fasste und nicht mehr losließ, fühlt man sich nun von einer „geopolitischen Verschiebung“ mitgerissen, die man kaum steuern kann. Fast täglich wechseln die Parameter, und alle Szenarien, auch die abwegigsten, müssen einkalkuliert werden. In Washington blickt man derweil kühl auf die Europäer. „Sie reden viel, aber sie liefern nicht“, sagte Trump in dieser Woche. Er habe Treffen satt, die nur um des Treffens willen stattfänden.

Brutal hält der amerikanische Präsident den Europäern vor Augen, wo sie in der neuen Weltordnung stehen. In der Nationalen Sicherheitsstrategie, die Trump gerade vorgestellt hat, wird Europa nur noch an hinterer Stelle behandelt, und dort, wo sie vorkommt, erscheint die Europäische Union weniger als Freund denn als Gegner. Im Zentrum der neuen amerikanischen Strategie steht nun die „westliche Hemisphäre“, also jener Raum, der auch als „The Americas“ bekannt ist. Dort beansprucht Trump absolute Hoheit. Auf „ihrem“ Kontinent wollen sich die Amerikaner ohne jegliche Einmischung von außen entfalten.

Danach fällt der Blick auf Asien, das sie als zweites Weltzentrum definieren. Man will keinen Einfluss mehr nehmen auf die politischen Systeme in der Region, solange amerikanische Interessen nicht negativ betroffen sind. International soll nicht mehr im Rahmen der G 7 (mit hoher europäischer Präsenz) über die Welt gesprochen werden, sondern, wie es in einem anderen US-Dokument heißt, im „Kern der Fünf“ (Core 5) – mit China, Russland, Indien und Japan.

Plötzlich zwischen allen Fronten

Die Verunsicherung, die das 30-Seiten-Papier in Europa hervorgerufen hat, ist groß. Dass ihr Kontinent aus dem amerikanischen Fokus verschwindet, ist den Europäern nicht entgangen. Aber die neue Sicherheitsstrategie dokumentiert die ganze Wucht des Wandels. An der Entfremdung besteht schon länger kein Zweifel mehr; damit lässt sich vielleicht noch leben. Aber was ist mit der sicherheitspolitischen Partnerschaft?

Bundeskanzler Friedrich Merz begrüßt NATO-Generalsekretär Mark Rutte vor einem Gespräch im Bundeskanzleramt.
Bundeskanzler Friedrich Merz begrüßt NATO-Generalsekretär Mark Rutte vor einem Gespräch im Bundeskanzleramt.dpa

Während regierungsintern von einer „Abwendung in Schallgeschwindigkeit“ die Rede ist, versucht man öffentlich den gegenteiligen Eindruck zu erzeugen. „Ich habe im Augenblick keine Veranlassung, an den Verabredungen zu zweifeln, die wir mit den Vereinigten Staaten von Amerika im NATO-Bündnis getroffen haben“, sagte Merz am Donnerstag. Die amerikanische Regierung habe in ihrem Papier „auch einige sehr zustimmende Worte zum NATO-Bündnis gefunden“. Flankiert wurde Merz von NATO-Generalsekretär Mark Rutte: Amerika bekenne sich „ganz klar“ dazu, Europa Sicherheit zu geben, und erkenne an, „dass die ganze Allianz sicher bleiben muss“, las Rutte etwas gewunden aus dem Papier heraus.

Ähnliches ist aus der Fachwelt zu hören. „Ich halte es für übertrieben, von einer Scheidungsurkunde zu reden. Es ist eher ein Familienzwist“, sagt Wolfgang Ischinger, der Kopf der Münchner Sicherheitskonferenz. „Das sollte man tiefer hängen.“ Er entnehme dem Papier, „dass Amerika Europa ernst nimmt und sich Sorgen macht – genau wie wir uns Sorgen um Amerika machen“. Abrüstende Worte kommen auch vom CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt. „Ich sehe in dem Papier keine Absage an uns“, sagt er. „Jedem, der von einem Ende der transatlantischen Zusammenarbeit spricht, widerspreche ich.“

„Trump strebt Regime-Change in Europa an“

Hinter der Neigung zum Euphemismus verbirgt sich vor allem die Sorge, mit dem Aussprechen von Wahrheiten die Situation weiter zu verschlechtern – oder wie es Hardt ausdrückt: „Wenn wir Amerika abschreiben, legen wir Trump den Ball auf den Elfmeterpunkt.“ Abgeordnete, die sich weniger in der Pflicht fühlen, lassen ihren Empfindungen dagegen freien Lauf. Als „Epochenbruch“ bezeichnet der frühere SPD-Außenminister Sigmar Gabriel das Strategiepapier. „Es ist ein Jalta 2.0. Der Globus wird in Einflussgebiete aufgeteilt, und wir haben das Pech, dass wir in einem Gebiet liegen, wo Amerika meint, dass Russland mitzureden hat.“ Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen spricht von einer „fundamentalen Veränderung von 80 Jahren amerikanischer Europa-Politik“ und fügt an: „Wer sagt, das müsse man nicht so ernst nehmen, liegt falsch.“

Vor allem die Ankündigung Amerikas, die „patriotischen Parteien“ – in Deutschland etwa die AfD – gegen die angeblich fehlgeleiteten Regierungen Europas zu unterstützen, bringt viele auf. Siemtje Möller, die führende Außenpolitikerin der SPD-Fraktion, glaubt, dass die Trump-Regierung „offensichtlich einen Regime-Change in Europa anstrebt“. Ihr Parteikollege Adis Ahmetovic erkennt „den Versuch, aus dem demokratischen Europa ein autoritäres zu machen“. Eine starke, geschlossene EU sei „nicht im Interesse Trumps, eher eine in 27 Einzelteile zerfallende“. So könne er die Staaten „leichter gegeneinander ausspielen und asymmetrische Deals durchsetzen“. Auch der grüne Bundestagsvizepräsident Omid Nouripour beklagt „illegitime Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten eigentlich engster Partner“.

Insbesondere die angekündigte Unterstützung rechtspopulistischer Parteien wird in Deutschland für übergriffig oder auch schlicht „frech“ gehalten. Aber Ischinger erinnert daran, dass hier womöglich mit zweierlei Maß gemessen wird. „Auch Teile der deutschen Politik haben sich vor den letzten US-Wahlen nicht gescheut, sehr deutlich Partei zu ergreifen. Das hat in den USA auch nicht allen gefallen“, sagt er.

Zweifel an Schutzversprechen Amerikas: Siemtje Möller (SPD)
Zweifel an Schutzversprechen Amerikas: Siemtje Möller (SPD)dpa

Auch was das Strategiepapier der USA über die NATO sagt, hat viele erschreckt. In dem Dokument wird das Bündnis nur am Rande erwähnt und oft abschätzig. In Berlin weckt das Zweifel an der Verlässlichkeit des größten NATO-Partners. „Es ist schwer abzusehen, ob wir uns auf das amerikanische Schutzversprechen nach Artikel fünf des NATO-Vertrages noch verlassen können“, sagt Siemtje Möller, und Nouripour meint, er vertraue auf Artikel fünf, „aber solange Donald Trump im Amt ist, können wir uns nicht blind darauf verlassen, dass im Zweifelsfall die USA ihrer Beistandspflicht nachkommen“.

Kerneuropa oder Vergrößerung des Kreises?

Sara Nanni, die außenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, stellt die Frage, was geschehen werde, wenn ein europäischer NATO-Staat wirklich bedroht sei. Würden die Amerikaner dann „Truppen“ schicken oder nur „ein Telegramm“? Zugleich sieht man in Berlin sehr klar, dass die NATO durch neue Strukturen flankiert werden muss. Ahmetovic setzt dabei auf die Europäische Union. Die müsse es jetzt schaffen, „gemeinsame Rüstungsprojekte, digitale Souveränität, einen funktionsfähigen Binnenmarkt und die Reform des Einstimmigkeitsprinzips“ auf den Weg zu bringen. In der Außenpolitik dürfe es „kein Veto mehr geben“, sodass die Union nicht durch prorussische Querschlägerstaaten ausgebremst werden kann.

Allerdings verlangt der Abschied von der Einstimmigkeit gerade dies: die Einstimmigkeit, die man nicht hat. Gabriel sagt deshalb, es habe „wenig Sinn, auf die Europäische Union zu setzen. Auf die EU zu warten, heiße, „auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten“. Ischinger schlägt deshalb vor, eine Idee aus den Neunzigerjahren wiederzubeleben: Damals gab es die Idee von „Kerneuropa“ – einer Gruppe von Vorreiterstaaten in der EU, die sich von der Einstimmigkeit befreien könnten.

Gleichzeitig wächst die Sympathie für Konzepte, die nicht so sehr auf einen „Kern“ innerhalb der EU setzen als auf die Vergrößerung des Kreises über die EU hinaus, also auf eine Zusammenarbeit der Nationalstaaten. Auch Ischinger hält es für sinnvoll, über die EU hinaus eine „Koalition der Willigen“ zu schaffen. EU-Staaten könnten ihr ebenso angehören wie Großbritannien und weitere EU- und NATO-Partner, aber auch Japan, Südkorea oder Australien. Deren Ziel müsse es vor allem sein, den „Flickenteppich der Rüstungsindustrien“ zu vereinheitlichen und weltmarktfähig zu machen.

An einem Punkt aber weiß niemand so richtig Rat: bei der atomaren Abschreckung. Die hängt – von Frankreich und Großbritannien abgesehen – für alle in der NATO an den Vereinigten Staaten, und wenn Trump eines Tages den Schirm zuklappen sollte, wäre man den nuklearen Erpressungsversuchen Wladimir Putins schutzlos ausgesetzt. Noch geben sich einige hoffnungsvoll. Möller von der SPD sagt, sie glaube nicht, dass Amerika die gemeinsame Abschreckung infrage stellen werde, denn sie diene ja dem eigenen amerikanischen Interesse – der „weltweiten Dominanz gegenüber anderen Mächten“. Ahmetovic sieht das ähnlich. Er meint, Trump sei „einfach zu lesen“: Er biete alles an, was in seinem „Businessmodell“ Gewinn verspreche – auch Atomschirme.

Allerdings vertrauen nicht alle auf diese Rechnung. Deshalb schaut man nicht nur bei der Union, wo Merz bereits erste, vorsichtige Nukleargespräche mit Paris begonnen hat, nach Frankreich und Großbritannien. Auch bei Grünen und Sozialdemokraten, also in Parteien, welche die Atomwaffen traditionell skeptisch sehen, suchen jetzt manche nach Alternativen zu Amerika. Nanni sagt, man müsse mit Franzosen und Briten darüber reden, wie sie zeigen könnten, „dass ihr nukleares Abschreckungskonzept auch ihre Verbündeten schützt“. Möller glaubt, „langfristig“ müssten die Europäer die Fähigkeit der gemeinsamen nuklearen Abschreckung „selbst gewährleisten“. Man habe auf dem Kontinent zwei Atommächte, und deshalb gelte: „Wir sollten darüber reden, wie deren Fähigkeiten für die Sicherheit Europas und zur Abschreckung dienlich sein können.“