Neue Sachlichkeit in Chemnitz: Die Liaison war Stadtgespräch

Er habe das Gefühl, dass „auf ein dämonisches Sichwegschleudern von dieser Erde noch einmal unersättliche Lust an ihr erwacht sei, Lust an ihrem fragmentarischen Charakter“, hat Franz Roh 1925 in seiner Studie „Magischer Realismus. Probleme der neuesten Malerei“ festgestellt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs und seiner apokalyptischen, opferreichen Schlachten war für Roh die farbenfrohe und sinnliche Formensprache des Expressionismus Geschichte.

Stärkere Konturen und strengere Formensprachen sollten als „Neue Sachlichkeit“ oder „Magischer Realismus“ eine symbolische Rückkehr zur Ordnung markieren – als Gegenpol zum Chaos in der Welt.

Mit Ordnung waren keineswegs restaurative gesellschaftspolitische Entwicklungen gemeint. Um 1918 endeten alte Regime wie das deutsche Kaiserreich. Demokratie erstarkte zunächst. Frauen erstritten in Europa das Wahlrecht. Die Oktoberrevolution in Russland setzte an vielen anderen Orten positive Energien frei.

Dieser umfassende Wandel blitzt in der Ausstellung „European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“ im Museum Gunzenhauser in Chemnitz an vielen Stellen auf. Die große Schau liefert neue Panoramen über Gesellschaften und Alltag zwischen den Weltkriegen und untersucht den vom Münchner Kunsthistoriker Franz Roh 1925 ­konstatierten „Magischen Realismus“ auf noch nie dagewesene Weise: 300 Werke von 190 Künst­le­r:In­nen aus 20 Ländern sind zu sehen.

Vor den Nazis geflohen

Die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Anja ­Richter hat dafür über mehr als fünf Jahre viele Schätze zusammengetragen. Länderspezifische Charakteristika sind für „European Realitites“ zugunsten von Kategorien wie Porträt und Stilleben, Nachtleben oder Arbeit in den Hintergrund gerückt. Es wird so klarer, dass künstlerische Ideen und Ansätze als Wissenstransfer und mit Migrationsbewegungen weitergewandert sind.

Wobei auf bekannte Kunstwerke nicht verzichtet wird, etwa „Selbstbildnis als Warner“, ein Gemälde von George Grosz (1927), das um selten zu sehende Werke sinnvoll ergänzt wird, wie „Epoche“ (1928) von Lotte B. Prechner. Ein Porträt, das den unorthodoxen Kommunisten George Padmore aus Trinidad zeigt, neben einem Bücherstapel und einer Papierrolle, auf der Worte und Wortteile wie „Diktat…“ und „…ismus“ erkennbar sind. Prechner, jüdische Künstlerin aus dem Rheinland, war eine Zeitgenossin von Grosz, wie dieser musste sie 1933 vor den Nazis aus Deutschland fliehen und fand in Belgien Zuflucht.

Viele bis dato unbekannte Kunstwerke aus Lettland, Polen und Bulgarien sind neben solchen von bekannteren Namen aus Schweden, Italien und England ausgestellt. Zu den europäischen Realitäten nach 1920 gehört etwa, dass mehr exotische Zierpflanzen aus Übersee den Weg nach Europa fanden. Das Reisen war damals nur wenigen möglich, Kakteen tauchen in vielen Stillleben auf, bringen Farbe in den grauen Alltag: Etwa bei „Bücher auf einem Tisch“ (1928), vom finnischen Maler Ilmari Aalto, der einen Kaktus neben einem Buchstapel zeigt und einen Umschlag, auf dem Menschen auf Kamelen sitzen.

Wie schon im Expressionismus war Paris der archimedische Punkt, ob für Künst­le­r:In­nen aus Osteuropa oder Skandinavien. In der französischen Hauptstadt kamen Amerika, Afrika und Europa zusammen wie nirgendwo sonst. Abweichend von Expressionismus und seinem Kult von Primitivismus und Volkskunst entsprechen viele Darstellungen, die in Chemnitz zu sehen sind, dem Versuch, mit der Neuen Sachlichkeit ein objektives Dasein von Gesellschaft zu erfassen und gegenständlich abzubilden.

Wimmelbild in Abendgarderobe

Das Gemälde „Wohltätigkeitsbasar“ (1927) von Milada Marešová, entstanden wie zahlreiche Exponate während eines längeren Aufenthalts der tschechischen Künstlerin in Paris, zeigt auf einem Wimmelbild Menschen in festlicher Abendgarderobe. Zentral in der Mitte steht ein alertes Paar. Es handelt sich um die britische Publizistin Nancy Cunard und den afroamerikanischen Jazzmusiker Henry Crowder, deren reale Liaison im Paris Mitte der 1920er zum Stadtgespräch wurde: Eine weiße, wohlhabende Frau liebt einen schwarzen Künstler. Das Paar wurde von Paparazzi verfolgt und von Rechten bedroht. Im Gemälde von Marešová sind die beiden Figuren eingereiht ins Partytreiben und doch fallen sie in der Menge auf.

Anders als im Stummfilm jener Zeit, der in kolonialer Nostalgie Schwarze zu fratzenhaften Bösewichten verzerrte oder in völkischen Zeitungsmedien, wo afrikanische Soldaten der französischen Armee in einer rassistischen Kampagne zu Vergewaltigern ­abgestempelt wurden, sind in Chemnitz Menschen zu erkennen: Etwa bei „Senegalesen“ (1928) vom polnischen Maler Ludomir Sleńdziński, entstanden bei einem Studienaufenthalt in Westafrika. Hier besticht die ungewöhnliche Perspektive. Zwei junge Männer stehen an einer Glasscheibe oder Wand. Der eine guckt nach rechts unten, der andere in Uniform und traditioneller Tarbusch-Mütze blickt betreten zu Boden. Beide schauen an den Rezipienten vorbei.

Der Komponist George Antheil hat Ende der 1920er in einem Essay über Jazz geschrieben, „was so viele von uns auf ihren Leinwänden, auf ihrem Notenpapier bereits zum Ausdruck haben bringen wollen … ist ein Neubeginn, es ist der Schwarze Mensch.“

Wo die offenen Grenzen in Europa schon wieder verteidigt werden müssen, liefert „European Realities“ Chemnitz als Europäischer Kulturhauptstadt einen passenden internationalen ­Rahmen.