
Manche von Slata Roschals Gedichten wirken, als wüssten sie am Anfang nicht, dass sie als Gedichte enden wollen. Sie tun so, als hätten sie ebenso gut Erzählungen werden können. Um die Lesenden nicht zu desorientieren, verraten ein paar Marker in diesen Kurztexten, dass es sich echt um Lyrik handelt: Zwar verzichtet die Münchner Autorin – 1992 in St. Petersburg geboren, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Dissertation über Dostojewski – auf Reime. Aber dafür fängt erstens jede Zeile, so wie es die Konvention von Versen früher forderte, mit Großbuchstaben an. Und zweitens nutzt Roschal Satzzeichen nur in Prosa.
In ihren Gedichten hingegen lässt sie die Sprache ohne Punkt und Komma fließen. Sie verunsichert die Syntax, bringt den Sinn in Verwirrung und erzeugt rhythmische Unbestimmtheit. Die teilt sich schon im passiv-aggressiven, ultralangen Titel des neuen Bandes mit: „Ich brauche einen Waffenschein ein neues bitteres Parfüm ein Haus in dem mich keiner kennt“, heißt er, 15 Wörter! Wenn’s nicht darum geht, aufs 18. Jahrhundert anzuspielen, tut man so was eigentlich nicht.
Roschal aber eben doch. Souverän wählt und kombiniert sie diverse Traditionen – Pop, Bibel, Kinderlied, Kunstgeschichte, Gebrauchsanweisung, Romane des 19. Jahrhunderts und bayrisches Schulgesetz. Ihren eigentümlichen Sound finden ihre Gedichte eben im Bruch oder auch der diskret-virtuosen Erfüllung vergessener konstruktiver Gesetze.
Hässliche Fotos von Madonna
Dieses Sprachspiel wirkt wie eine dringende Aufforderung, diese Antilyrik lyrisch zu lesen: „Hässliche Fotos von Madonna“, fängt eins von Roschals meist titellosen Gedichten an, das mit Interpunktion zum argumentierenden Mini-Essay verrutscht wäre, „trösten mich weil ich zumindest / Gedichte schreibe denke ich auch wenn / Madonna ich nicht unbedingt darin erwähnen sollte“.
Der Punkt verfälscht das Zitat. Denn das Gedicht hört hier nicht auf. Es bleibt in Bewegung. Sein Schwung trägt die Sprache aus der geraden und engstirnigen Bahn der Begründungszusammenhänge und lässt sie in ein freieres, aber gedanklich viel komplexeres Assoziieren gleiten.
Das ist im Stande, aus Patriotismus, Tod, Sprachpolitik und, durch den Namen des im heutigen Oblast Donezk geborenen Komponisten Sergeij Prokofiev sehr konkret, dem Ukrainekrieg ein kaum auflösbares Syndrom zu formen. „Das Konzept des Singens ist mir fremd geblieben wozu die Mühe“ stellt sich in dessen Zentrum, in der Mitte des Gedichts, beiläufig-schnoddrig die Frage nach dem Sinn von Kunst.
Schwarzhumorige Szenen
Ein Gedicht ist ein Igel, der die Autobahn überquert: Diese bei Jacques Derrida geklaute Definition passt ausgezeichnet auf Roschals Lyrik. Nomadisch auf dem Sprung – denn da ist für sie kein Bleibens – und monadisch eingekugelt, reagiert diese Dichtung widerborstig und selbstbezüglich auf die Gegenwart.
In der lauert, überall, übermächtig Gewalt: im blöden TV-Tatort, in PR-Slogans, in makaber-schwarzhumorigen Szenen: „Damit mal endlich Ruhe ist / Schaltet ein alter Mann die Sauerstoffgeräte seines Nachbars ab“, beginnt das zweite Gedicht mit einer bösen Fantasie. Auch die Täterinnenperspektive wird erprobt: „Auf fahrlässige gutmütige Weise / Würde ich dich töten also das nur bei gutem Grund“, heißt es in einer Art Liebesgedicht.
Liebe, Tod und Leidenschaft, damit hat diese Lyrik kein Problem. Aber der Versuchung, sich mit diesen Ewigkeitsthemen aufs Unverbindliche zurückzuziehen, erliegt sie nicht. Immer drängt das beschissene wirkliche Leben nach vorn, mit verunglückter Kosmetik, Steuererklärungen und AfD-Abgeordneten. Weil aber Roschal nun mal als Dichterin lebt, avanciert zu einem Leitmotiv des Bandes, wie der Literaturbetrieb Dichterleben verformt, am wirksamsten im System der Residenz-Stipendien. Roschal greift dieses Förderinstrument dichterisch auf.
Erneuerung der Klobürste
Genauer: Mit einem erfreulich beherzten Biss in die Hand, die sie füttert, greift sie es an. Um diese Stipendien zu erhalten, müssen die Empfänger*innen die eigene Existenz – Wohnort, Bekannte, Familie – temporär aufgeben. Sie haben in eine Stadtschreiber-Wohnung zu ziehen. „Oft ist es erforderlich so zu tun als hätte man kein Zuhause / Als würde man den Hund der Geschäftsführerin mögen“, dichtet Roschal. Oder, anderswo, sehr unschön: „Die Toilette ist nicht sauber sagte ich am Telefon / Zum Vermieter meines Residenzappartements“.
Das könnte zu Larmoyanz gerinnen. Aber Roschal vermeidet das: Sie verspottet auch das Ich, das sich beim Vermieter artig und devot für die Erneuerung der Klobürste bedankt, „als hätte er eine Gefälligkeit von ungeheurem Maß erwiesen“. Lächerlich. Aber zugleich ist das genau die durchs Literaturförderungswesen erzielte Stellung der Dichterin in der Welt. Schwer zu sagen, für welche der beiden das bitterer ist.