
Greta kann ihr Handy nicht abgeben. Sie müsste es nur in den transparenten Plastikbehälter legen, wie alle anderen Jugendlichen auf der Station es auch getan haben. Das ist die Voraussetzung, um in der Psychiatrie bleiben zu dürfen. Aber sie schafft es nicht. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, der Atem wird schneller, Panik. Dann greift sie nach ihrer Tasche und rennt die Klinikflure entlang. Sie muss hier so schnell wie möglich wieder raus. Denn ohne ihr Handy kann sie die Stimme ihrer Schwester nicht mehr hören, wenn sie sie anruft, immer wieder – auch wenn sich auf der anderen Seite nur eine Mailboxansage meldet.
Greta, verkörpert von Luna Mwezi, ist die Hauptfigur in der sechsteiligen ARD-Serie „Stabil“. Die Coming-of-Age-Serie spielt fast ausschließlich in einer Jugendpsychiatrie. Nach einem Motorradunfall gibt sich die sechzehnjährige Greta die Schuld am Tod ihrer Schwester und wird nach einem Suizidversuch in die Klinik eingewiesen. Dort begegnet sie anderen Jugendlichen in ihrem Alter, die alle mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben. Da ist Frederick (Beren Zint), genannt „Fresse“, der ein Aggressionsproblem hat und bei fast jeder Gelegenheit um sich schlägt, und die sich selbst verletzende Michelle (Katharina Hirschberg), die Zimmergenossin von Greta, die sich nicht waschen will und um den Mund herum entweder mit Schokolade oder Tomatensoße beschmiert ist.

Ein dichtes Netz an Beziehungen entspinnt sich
Zu Beginn, so fürchtet man, droht die Serie unter der Regie von Teresa F. Hoerl und Sinje Köhler in stereotype Darstellungen psychisch Erkrankter abzugleiten. Etwa wenn die Hauptcharaktere eingeführt werden und der spielsüchtige „Killer“ (Uhud Karakoç), wie ihn alle nennen, seine eingeschmuggelte Konsole verstecken muss, weil ihm sonst der Rauswurf droht. Dieser Eindruck verfliegt jedoch schnell, und spätestens nach der ersten Folge erzwingt die Serie einen genaueren Blick – und zwar jenseits von Diagnosen, mit denen man die Jugendlichen schnell abstempeln könnte. Nach und nach entspinnt sich ein dichtes Netz an Beziehungen, welche die jungen Patienten auf der Station zueinander aufbauen. Man begleitet sie, wie sie sich kennenlernen und sich helfen, wenn der nächste mentale Zusammenbruch droht – und der droht oft, einer steckt jedenfalls immer in der Krise oder gleich alle miteinander. Wenn „Fresse“ seine Mitpatienten anstiftet, in der Tiefgarage der Jugendpsychiatrie eine Party zu schmeißen und gegen alle Regeln Alkohol in die Klinik schmuggeln will, müssen am Ende alle die Konsequenzen tragen.
Behutsam und zugleich schonungslos legt die Serie die komplexen Vorgeschichten der Jugendlichen offen und beleuchtet die familiären Hintergründe, die im Klinikalltag weiterhin präsent sind. Das gelingt mit viel Ambivalenz, ohne dass die Handlung ins Rührselige driftet. Mit Close-ups fängt die Kamera die Emotionen der jungen Menschen ein, die Wut, die Ängste und Verzweiflung – etwa dann, wenn sich Greta mit der Hilfe ihrer Therapeutin Sarah Kim, gespielt von Abak Safaei-Rad, ihrem Trauma zu stellen versucht und sich gedanklich an den Ort des Unfalls begibt, bei dem ihre Schwester starb.

Mit viel Feingefühl für emotionale Vielschichtigkeit
Schicht für Schicht wird die Beziehung zu ihrer Schwester freigelegt, die in den vielen Jahren ihrer Kindheit und Jugend natürlich nicht nur von Harmonie geprägt war. Luna Mwezi spielt die sechzehnjährige Greta beinahe zurückgenommen, ohne Pathos, mit viel Feingefühl für die emotionale Vielschichtigkeit ihrer Figur. Inmitten ihrer seelischen Krise und trotz „KKuKK“ (Kein Körperkontakt unter Klapsen-Kindern) verliebt sich Greta in den sensiblen Alireza (Caspar Kamyar), der ihre Gefühle erwidert, aber zugleich mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Trotz ihrer aufkeimenden Liebe versinkt Alireza tiefer in seinen Depressionen – es ist diese Gleichzeitigkeit in der Erzählweise, welche die Serie vor Kitsch und Klischees bewahrt.
Etwas zu idealtypisch sind die Therapeuten geraten. Man kann sich kaum vorstellen, dass sich die Psychologen neben dem Stress im Klinikalltag mit so großer Hingabe rund um die Uhr in das Seelenleben ihrer jungen Patienten einfühlen können, wie es in „Stabil“ passiert. Jedenfalls darf man sich einen Begleiter in Krisenzeiten – kumpelhaft, verständnisvoll und hellsichtig – wie ihn etwa Schauspieler Ronald Zehrfeld in der Rolle von Betreuer „Uwe“ verkörpert, für Deutschlands Jugendpsychiatrien nur wünschen.
Stabil läuft in der ARD-Mediathek und am Samstag ab 23.30 Uhr bei One.
