Was wird aus uns, wenn unsere Kinder groß sind – und was wird aus ihnen, wenn wir sie loslassen müssen in eine Welt, die sich zunehmend unfreundlich zeigt? Diese Fragen treiben Kristine Bilkaus Romanfigur Annett um. Halbinsel, 2025 erschienen, erzählt auf 244 Seiten von ihr – einer Mutter, die zwischen Angst, Hoffnung und Verantwortung oszilliert.
Nun hat der NDR das in diesem Jahr mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnete Werk in ein Hörspiel verwandelt. Annett, Ende 40, stellvertretende Leiterin der Stadtbibliothek einer nordfriesischen Kleinstadt, hat vor 20 Jahren ihren Mann durch eine Herzattacke verloren.
Ihre Tochter Linn hat sie seitdem allein großgezogen. Die ist mittlerweile auch erwachsen und hat sich nach dem Abitur voller Idealismus aufgemacht in die weite Welt: schwedische und rumänische Wälder, Aufforstungsprojekte, Umweltvolontariate.
Für ihre Mutter ist sie Inbegriff von Zukunft. Bis die Mittzwanzigerin auf einer Tagung aus Erschöpfung zusammenbricht. Annett holt sie zurück nach Hause, nur für eine Woche, glaubt sie – doch es wird ein ganzer, nicht ganz harmonischer, Sommer.
Die Arbeit der Autorin
Erstmals überhaupt wurde ein Roman der Hamburger Autorin als Hörspiel umgesetzt, und Kristine Bilkau hat dafür selbst Hand an ihr eigenes Werk gelegt, hat es verdichtet, mutig gekürzt und zugleich einzelne Figuren stärker profiliert.
Johann etwa, der verstorbene Ehemann von Annett gewinnt im Hörspiel an Kontur und Tiefe. In wichtigen Momenten, Momente, in denen Annett alles über den Kopf zu wachsen droht, erklingt seine Stimme nicht als Geist, sondern als Nachhall jener Fragen, die die Witwe seit zwei Jahrzehnten begleiten.
Schon die ersten Sekunden ziehen hinein in Annetts Schicksalsschlag. Klaviermusik legt einen düsteren Klangteppich, während die Nachricht vom Kollaps der Tochter einbricht. Geräusche wie Straßenbahnrumpeln, Hundebellen oder das ferne Murmeln von Passanten öffnen die Szenen nach außen, ohne sie zu überfrachten.
Kristine Bilkau „Halbinsel“, Hörspiel, NDR, Regie Susanne Krings, Ursendung 22. 11., 18 Uhr, NDR Kultur, ab 19. November in der ARD-Audiothek
In den gesamten 80 Minuten Lauflänge bleibt der Ton intim, ruhig und atmosphärisch. Pausen und Zurückhaltung prägen den Klang. Stimmen wirken nah, fast schon nach innen gerichtet, mit feinen emotionalen Nuancen.
Die Soundkulisse unterstützt die fragile, nachdenkliche Stimmung zwischen Nähe, Zweifel und unterschwelliger Spannung. Maja Schöne leiht Annett ihre Stimme – eindringlich, brüchig. Selbst ohne Hintergrundgeräusche transportiert diese Stimme eine ganze Szene.
Lucia Kotikova wiederum lässt in jedem Satz Linns Idealismus und Erschöpfung zugleich durchscheinen. So entsteht ein Hörraum, der die Grundspannung des Romans – Liebe, Erwartung, Überforderung – akustisch spürbar macht.
Kristine Bilkau, 1974 in Hamburg geboren, hat Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans studiert. Ihr Debüt „Die Glücklichen“ (2015) wurde vielfach ausgezeichnet, „Nebenan“ (2022) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
„Halbinsel“ schließlich überzeugte die Jury der Leipziger Buchmesse 2025: Der „bilkausche Ton“ – ruhig, präzise, kein Wort zu viel – lege Schichten von Fragen frei, „die verunsichern“, begründete die Jury ihre Entscheidung im Sommer. Genau dieser Ton gewinnt im Hörspiel noch an Intensität.
