Nationalmannschaft: Philipp Lahm kritisiert Julian Nagelsmann – „Für mich zu viel Hin und Her“

Philipp Lahm gewann mit Deutschland 2014 die WM. Bei der aktuellen Nationalmannschaft sieht er vor dem Turnier in den USA Schwächen. Im Interview stellt er klare Forderungen an den Bundestrainer Julian Nagelsmann. Und überrascht mit einer Idee für Joshua Kimmich.

Schon bald weiß Bundestrainer Julian Nagelsmann endlich mehr. Freitag ab 18 Uhr lost der Fußball-Weltverband Fifa in Washington die Gruppen für die WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada aus. Bis Samstag stehen dann Gegner, Anstoßzeiten und Spielorte der deutschen Auswahl.

Philipp Lahm gewann mit Deutschland 2014 das Weltturnier, siegte im Finale in Rio de Janeiro gegen Argentinien. Im vergangenen Jahr organisierte er mit seinem Team vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) die EM in Deutschland. Im Interview spricht der einstige Weltklasse-Verteidiger, der kürzlich das Bundesverdienstkreuz erhielt, über die Chancen und Probleme der deutschen Nationalmannschaft.

Frage: Herr Lahm, Deutschland hat sich für die Weltmeisterschaft qualifiziert, ist jetzt als Gruppenkopf gesetzt. Wie haben Sie die Qualifikation verfolgt?

Philipp Lahm: Es war die letzten Jahre nie der Fall gewesen, dass Deutschland am letzten Spieltag noch rausfliegen konnte oder die Play-offs drohten. Dafür muss es Gründe geben. Was für mich in der Qualifikation bezeichnend war: Es gab enorme Schwankungen. Das Positiv-Beispiel war die erste Halbzeit gegen die Slowakei. Mit extremer Leidenschaft und Intensität hat man den Gegner unter Druck gesetzt. Aber es gab eben auch andere Auftritte wie gegen Luxemburg, bei denen man sich schon Sorgen macht.

Frage: Wie erklären Sie sich diese Schwankungen?

Lahm: In unserer Historie finde ich Mannschaften, die über Jahre zusammenwuchsen. Die 90er verloren zuvor 1988 im Halbfinale gegen die Niederlande. Wir 14er waren vor dem Titel zweimal an Spanien und Italien gescheitert. Für beide Weltmeisterteams galt: Es gab einen Kern an Spielern, die die Sicherheit vom Trainer bekommen haben, dass sie spielen. Für sie war klar: Sie hatten die Verantwortung auf dem Platz, sie waren für das Ergebnis zuständig. So konnten sich andere an ihnen aufrichten. Das darf man nicht unterschätzen. Diese Entwicklung sehe ich in der aktuellen Mannschaft noch nicht. Für mich waren es zu viele Wechsel, teilweise verletzungsbedingt, aber nicht nur. Nun weiß man nicht: Wer ist der Kern, wer passt zusammen? Das muss Julian Nagelsmann jetzt so schnell wie möglich in den Griff bekommen. Zuletzt war es einfach für mich zu viel Hin und Her.

Frage: Was sind die Folgen daraus?

Lahm: Diese vielen Wechsel geben den etablierten Spielern nicht die nötige Sicherheit. Ein Beispiel ist Leroy Sané. Einmal wird er zu Hause gelassen, und dann spielt er auf einmal zweimal von Anfang an. Darin liegt eine Gefahr. Man kann Spieler verbrennen. Ich glaube, es ist jetzt das A und O, nicht mehr so viel zu rotieren. Es muss sich eine Mannschaft finden.

Frage: Sehen Sie denn einen potenziellen Kern an etablierten Spielern, die diese ­Hierarchie bilden könnten?

Lahm: Ja. Ich denke an Jonathan Tah, Joshua Kimmich, Florian Wirtz, Leon Goretzka, an Jamal Musiala und Kai Havertz, wenn die beiden wieder fit sind. Das sind alles international erfahrene Spieler, die diese Anerkennung haben und auch Woche für Woche Leistung auf absolutem Top-Niveau zeigen. Ob die dann alle von Anfang an spielen, ist was anderes, weil das ist immer noch Trainersache. Aber Sorgen um die Qualität muss sich der deutsche Fan nicht machen.

Frage: Können wir Weltmeister werden?

Lahm: Ja, aber man braucht Kontinuität und Automatismen, um Exzellenz zu entwickeln.

Frage: Kontinuität fehlt bisher auch beim Spielsystem. Mal ist es in der Defensive eine Vierer-, dann wieder eine Dreierkette. Julian Nagelsmann argumentiert, ein fixes Spielsystem sei nicht mehr zeitgemäß, Flexibilität sei wichtiger. Wie sehen Sie das?

Lahm: Wir sind immer noch Deutschland. Eigentlich sollte sich mehr der Gegner an uns orientieren als umgekehrt. Deswegen würde ich immer ein A-System bevorzugen. Dies gibt Klarheit für die Spieler und ihre Positionen. Natürlich kann man dann auch mal das B-System spielen.

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Frage: Ein Sinnbild der fehlenden Kontinuität ist Joshua Kimmich, der von Nagelsmann zwischen Rechtsverteidiger und Mittelfeldchef hin- und hergeschoben wird. Wo sehen Sie ihn?

Lahm: Ich finde, die optimale Position von Joshua Kimmich ist die Acht mit einem Sechser daneben. Ob wir diesen klassischen Sechser daneben haben, ist die andere Frage.

Frage: Könnte Aleksandar Pavlović dieser Sechser sein?

Lahm: Pavlovic macht seine Sache im Mittelfeld sowohl bei Bayern als auch in der Nationalmannschaft ganz gut. Ich sehe in ihm allerdings keinen klassischen Sechser.

Frage: Bei Ihrem Spieler-Kern haben Sie keinen Torwart genannt. Oliver Baumann hat alle Qualifikationsspiele bestritten. Offen ist noch das Comeback von Marc-André ter Stegen. Dazu gibt es eine Diskussion, ob Manuel Neuer nicht doch zur Weltmeisterschaft mitmuss. Muss er?

Lahm: Manuel ist zurückgetreten, und solange er nicht sagt, er stehe wieder zur Verfügung, gibt es eigentlich keine Debatte. Wir haben aktuell vier oder sogar noch mehr gute Torhüter. Auf der Position haben wir kein Problem. Es ist aktuell nur die Frage: Wie kommt Marc-André ter Stegen zurück aus der Verletzung, und spielt er dann auch wieder? Fakt ist auch: Wir haben keinen Torhüter, der fünfmal Welttorhüter geworden ist. Da gibt es nur einen, und das ist Manu.

Frage: Im Sturm zählten Sie Kai Havertz auf, nicht Nick Woltemade.

Lahm: Kai Havertz hat bereits bewiesen, dass er international Top-Leistungen abrufen kann. Er hat in einem Champions-League-Finale das entscheidende Tor gemacht, zudem sämtliche Erfahrungen bei Turnieren mit der Nationalmannschaft wie in den Vereinen auf höchstem Niveau. Bei Nick Woltemade muss man sehen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass er noch nicht lange auf dem Niveau Fußball spielt.

Frage: Wie sehen Sie das Leistungs­tief von Florian Wirtz nach seinem Wechsel zum FC Liverpool?

Lahm: Um Liverpool kann man sich aktuell Sorgen machen, aber nicht um Florian Wirtz. Er hat bereits bewiesen, dass er die Qualität hat. Er hat auch bewiesen, dass er mit Rückschlägen wie seiner Knieverletzung umgehen und zurückkommen kann, um erneut auf seinem hohen Niveau weiterzuspielen. Er wird für die Nationalmannschaft daher sehr, sehr wichtig sein.

Frage: Saïd El Mala oder Lennart Karl – muss eines dieser Talente mit zur WM?

Lahm: Das wird jetzt das kommende halbe Jahr zeigen. Sowohl Karl als auch El Mala brauchen in ihren Vereinen Einsätze und müssen beweisen, dass sie das immer konstant spielen können. Man erwartet ja immer eine Leistungsdelle bei solchen jungen Spielern. Die muss aber nicht kommen. Ich würde mich freuen, wenn beide einfach weiter konstant Fußball spielen auf Top-Niveau. Dann sind sie sicher eine Option.

Frage: Sie haben das 6:0 über die Slowakei als Positiv-Beispiel genannt. Bei der Partie standen fünf Bayern-Spieler in der Startelf. Ist es vielleicht so einfach: Um erfolgreich zu sein, stellt man alle deutschen Bayern-Spieler auf?

Lahm: Aktuell muss man ja wieder die Frage stellen: Wer soll Bayern in der Bundesliga überhaupt schlagen? Und dann sind die potenziellen Nationalspieler auch alle Kandidaten für die Anfangsformation bei den Nationalmannschaften.

Frage: Anders gefragt: Sollte sich Julian Nagelsmann an Vincent Kompany orientieren? Der Bayern-Trainer hat Erfolg, indem er bei Spielern wie System auf Kontinuität setzt.

Lahm: Vincent Kompany hat klare Rollen definiert. Jeder Spieler, jeder Fan hat eine Vorstellung davon, wer die ersten elf sind. Und wenn ein Innenverteidiger mal eine Pause braucht, kommt Minjae Kim rein. Oder in der Offensive dann eben Lennart Karl. Bei den Außenverteidigern werden die Wechsel ein Ende haben, sobald Alphonso Davies wieder fit ist. Dadurch treten die Bayern als Mannschaft auf. Man kann in diesem Herbst zumindest die Fantasie entwickeln, dass sie die Champions League gewinnen.

Frage: Der FC Bayern gilt als Mitfavorit um den Champions-League-Sieg, die Nationalmannschaft nur als Außenseiter bei der WM. Dabei ist der Kern der Spieler derselbe. Was braucht das DFB-Team von den Bayern?

Lahm: Fußballerische Klasse ist in jeder Generation vorhanden, wir haben sie auch jetzt. Deutsche Mannschaften waren immer dann erfolgreich, wenn sie Intensität und Leidenschaft an den Tag legten. Und wenn ihre Spieler gemeinsames Vertrauen aufbauten, dass sie Titel gewinnen können. Dieses Vertrauen muss Julian Nagelsmann mit der Mannschaft nun entwickeln.

Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Sport Bild“ veröffentlicht.