
Die Geschichte des Jazz im Nachkriegsdeutschland ließe sich auch mit drei signifikanten Lebensläufen erzählen, ohne dabei wesentliche Aspekte der Entwicklung auszulassen. An jenem des arbeitenden Genies Albert Mangelsdorff, der in Frankfurt konsequent Stein auf Stein zu einem imposanten Posaunenwolkenkratzer zusammenfügte. An der Vita des exzentrisch-peniblen Stuttgarter Handwerkers Wolfgang Dauner, dessen Partituren riskante Klangwerkzeuge waren, um das Klavier bei Bedarf auch einmal in Brand setzen zu können. Schließlich an der Karriere des souveränen Pragmatikers Klaus Doldinger, der das Kunststück fertig brachte, mit dem Saxophon einen musikalischen Mittelweg zu beschreiten und dennoch in Rom ankam. Herausragende Jazzoriginale waren alle drei, der kommerziell erfolgreichste wurde Doldinger aus Berlin mit langen Lebensphasen in Düsseldorf und München.
Noch etwas verband die drei: dass sie im Grunde Autodidakten des Jazz gewesen sind. Wie hätte es auch anders sein können in einer Zeit, in der es noch keine Musikhochschulen mit nennenswerten Jazzabteilungen gab, keine Jazzinstitute in Graz oder Darmstadt, wo man sich neben Praxis auch noch theoretisches Rüstzeug beschaffen konnte. Mangelsdorff und Co. gingen in den wie Pilze aus dem Boden schießenden Jazzclubs der Fünfzigerjahre zur Schule, machten beim Transkribieren von Soli auf Schallplatten amerikanischer Vorbilder ihre Hausaufgaben und holten sich den letzten Schliff bei After-hour-sessions mit jenen Stars im Untertagebau des Jazz.
Fan amerikanischer Vorbilder
Klaus Doldinger hatte immerhin den Vorteil einer gediegenen musikalischen Ausbildung für Klavier und Klarinette am Düsseldorfer Robert-Schumann-Konservatorium und einem daran anschließenden soliden Musikwissenschaftsstudium nebst Tonmeisterausbildung. Zum Jazz aber fand auch er als Fan amerikanischer Vorbilder und durch frühes Learning by doing als Sechzehnjähriger in der Hotjazzformation The Feetwarmers und in Oscar’s Trio, mit denen er Bühnenerfahrung sammelte und bereits erste Auszeichnungen erhielt, dabei mehr und mehr auf seinen Instrumenten, dem Sopran- und Tenorsaxophon.
Doldinger hatte schon eine respektable Jazzkarriere mit Preisen beim Amateurjazzfestival in Düsseldorf, bei Auslandstourneen und Plattenaufnahmen mit eigenem Quartett und Auftritten mit Größen wie Don Ellis, Kenny Clarke oder Donald Byrd hinter sich, als die Begegnung mit dem Plattenproduzenten Siggi Loch einen entscheidenden Karriereschub auslöste. Die Produktion „Jazz – Made in Germany“ bei Phillips im Jahr 1963 war der Beginn einer lebenslangen fruchtbaren Zusammenarbeit der beiden Gleichgesinnten eines erweiterten Jazzverständnisses und verhalf Doldinger zu internationaler Reputation und entsprechendem kommerziellem Erfolg. Seine Band Passport, 1971 gegründet und eigentlich bis in die unmittelbare Gegenwart existierend, wurde schließlich zu Doldingers populärster Jazzrockgruppe – oft verglichen mit der amerikanischen Fusionband Weather Report – und eine der erfolgreichsten Formationen im Katalog von Siggi Lochs ACT-Music in München. Zugleich war Passport immer auch ein Sprungbrett vieler junger Musiker gewesen, die – wie Udo Lindenberg, Curt Cress, Wolfgang Haffner, Patrick Scales oder Roberto DiGioia – in Doldinger einen generösen Mentor fanden.
Klaus Doldinger aber war nicht nur mit seiner Offenheit für junge Talente, seiner Flexibilität gegenüber aktuellen stilistischen Veränderungen und seiner klaren, kräftigen Tonsprache auf dem Saxophon eine inspirierende Stimme des modernen Jazz. Mit seinem untrüglichen Gespür für melodische Charakteristik, seinem Sinn für dramaturgische Gestaltung und seiner tontechnischen Expertise im eigenen Studio wurde er auch zu einem begehrten Komponisten von Fernsehproduktionen und Soundtracks für Filmaufnahmen. Seinen ersten musikalischen Trailer schrieb er 1967 zur Einführung des Farbfernsehens, viele weitere Klangaufnahmen folgten, darunter die Erkennungsmelodie zur Krimi-Serie „Tatort“, Soundtracks zu Wolfgang Petersens „Das Boot“ und zum Fantasy-Klassiker „Die unendliche Geschichte“, die Musik zur Anwaltsserie „Liebling Kreuzberg“ mit Manfred Krug sowie zahllose weitere Tonstudioproduktionen, die ihm über den Jazz hinaus Reputation als Filmkomponist verschafften. Klaus Doldinger war mit einem die Zahl 2000 überschreitenden Werkverzeichnis und mehr als viertausend Auftritten in siebzig Jahren einer der rastlosesten und aktivsten Jazzmusiker des Landes, möglicherweise des Kontinents. Am Donnerstag ist er in Icking am Starnberger See, wo er seit 1968 lebte, im Kreise seiner Familie im Alter von 89 Jahren gestorben.