

Größer könnte der Dissens kaum sein: Während das amerikanische Außenministerium die beiden Geschäftsführerinnen der deutschen Beratungsstelle HateAid, Anna-Lena von Hodenberg und Josephine Ballon, als „führende Akteure des weltweiten Zensur-Industrie-Komplexes“ sieht und sie deshalb mit einer Einreisesperre belegte, hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von Hodenberg im Oktober stellvertretend für ihre Organisation mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
„Wir lassen uns von einer Regierung nicht einschüchtern, die Zensurvorwürfe instrumentalisiert, um diejenigen, die sich für Menschenrechte und Meinungsfreiheit einsetzen, mundtot zu machen“, entgegneten von Hodenberg und Ballon und forderten klare Worte von der EU und der Bundesregierung, weil sich sonst niemand mehr traue, Missstände bei amerikanischen Konzernen anzuprangern. Europäische Gesetze seien „dann nicht mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben wurden“, heißt es von HateAid, das sich gegen digitale Gewalt und für die Strafverfolgung von Hasskriminalität im Internet einsetzt.
Die amerikanische Regierung stelle im Grunde die europäische Souveränität infrage, weil sie mit allen Mitteln verhindern wolle, dass amerikanische Konzerne sich in Europa an geltendes Recht, also den Digital Services Act (DSA), halten müssen. Der DSA soll neue, einheitliche Standards für ein sicheres, berechenbares und vertrauenswürdiges Onlineumfeld setzen und die Rechte der Nutzer im Internet schützen. Er verpflichtet digitale Dienste und Onlineplattformen zu mehr Transparenz und soll es Nutzern erleichtern, gegen illegale Inhalte, Hass, Hetze und Desinformation vorzugehen.
Was steckt hinter den amerikanischen Vorwürfen?
Hinter dem vordergründigen Vorwurf der Amerikaner, die Meinungsfreiheit zu verletzen, verbirgt sich vor allem die Befürchtung, dass der DSA der EU sich auch auf amerikanische Plattformen und Amerikaner auswirken könnte. Der Justizausschuss des Repräsentantenhauses hat dazu vor Kurzem einen Bericht veröffentlicht, in dem es heißt, europäische Regulierungsbehörden definierten „politische Äußerungen, Humor und andere durch das First Amendment geschützte Inhalte als Desinformation und Hassrede und verlangen dann von Plattformen, ihre globalen Richtlinien zur Moderation von Inhalten zu ändern, um diese zu zensieren“. Außenminister Marco Rubio begründete die Einreisesperren damit, dass „Ideologen in Europa“ amerikanische Plattformen zwängen, „amerikanische Standpunkte zu bestrafen, die ihnen nicht passen“.
Gegen die beiden Geschäftsführerinnen von HateAid sowie gegen drei weitere Personen hatte das US-Außenministerium am Abend des 23. Dezembers Einreisesperren verhängt. Darunter ist auch der frühere EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton, der als Architekt des DSA gilt. „An unsere amerikanischen Freunde: Die Zensur findet nicht dort statt, wo ihr sie wähnt“, erklärte Breton auf der Plattform X und schrieb von einer „Hexenjagd“, die der Verfolgung vermeintlicher Kommunisten während der McCarthy-Ära gleiche.
Der DSA erlegt großen Onlineplattformen und Suchmaschinen besondere Pflichten auf, gegen illegale Inhalte im Netz vorzugehen. Elon Musk, der Chef von X, hatte Breton deshalb als „Europas Tyrannen“ bezeichnet. Der ebenfalls von den Einreiseverboten betroffene Brite Imran Ahmed, der eine Organisation für den Kampf gegen Internethetze leitet, hat Marco Rubio sowie weitere Mitglieder der amerikanischen Regierung verklagt. Ahmed ist im Besitz einer Green Card, dennoch drohen ihm Festnahme, Strafhaft und Ausweisung aus den Vereinigten Staaten.
Welche Rolle die „Trusted Flagger“ spielen
Eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung des DSA spielen die sogenannten „Trusted Flagger“ (vertrauenswürdige Hinweisgeber), zu denen auch HateAid gehört. Sie sollen laut Bundesnetzagentur die nötige Sachkenntnis und Erfahrung bei der Identifizierung und Meldung rechtswidriger Inhalte besitzen. Stellt ein „Trusted Flagger“ Rechtsverstöße im Internet fest, meldet er sie an die betroffene Onlineplattform, die verpflichtet ist, dessen Meldung vorrangig zu berücksichtigen und unverzüglich tätig zu werden. Das kann bedeuten, dass die Plattform die betroffenen Inhalte löscht. Außerdem informieren die Meldestellen illegale Inhalte an die Zentralstelle des Bundeskriminalamts für strafbare Inhalte im Internet oder an spezialisierte Staatsanwaltschaften, die dann ermitteln.
Die Bundesnetzagentur fungiert in Deutschland als „Digital Services Coordinator“ und lässt die als „Trusted Flagger“ anerkannten Institutionen zu. Einzelpersonen können nicht als „Trusted Flagger“ agieren. Die antragspflichtigen Institutionen müssen nicht nur die eigene Unabhängigkeit nachweisen, sondern auch Strategien über die jeweiligen Verfahren offenlegen, die Sorgfalt, Genauigkeit und Objektivität ihrer Tätigkeit belegen. Zu den zugelassenen „Trusted Flaggers“ gehören die Meldestelle „REspect!“ der Jugendstiftung Baden-Württemberg, der Bundesverband Onlinehandel e.V. sowie die Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. und die HateAid GmbH.
Die gemeinnützige Organisation HateAid hilft Menschen, die im digitalen Raum Gewalt erfahren haben, beleidigt oder verleumdet werden oder auch ohne ihr Wissen und Einverständnis mit Nacktbildern und Sexaufnahmen erpresst werden. Die Beratung von HateAid ist für Betroffene kostenlos, gelegentlich werden auch die Kosten für zivilrechtliche Verfahren übernommen.
Die Organisation war 2018 gegründet worden und finanziert sich nach eigener Auskunft zu etwa der Hälfte aus privaten Mitteln. Etwa 20 Prozent der Kosten finanziert das Bundesjustizministerium, freie Spenden machen gut 20 Prozent aus. Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) sagte, wenn Betroffene von Hassrede schutzlos blieben, sei der demokratische Diskurs nicht frei. Wer das als Zensur bezeichne, stelle „unser rechtsstaatliches System falsch dar“.
