
Was ist mit den Musikvideos los? Warum erscheinen die Budgets auch bei Stars wie Lorde auffallend niedrig? Ist die große Zeit der Clips vorbei, und was war das überhaupt, ein gutes Video? 15 Jahre lang haben Jens Balzer und ich im monatlichen Gesprächsformat Popsalon mit Gästen über Musikvideos geredet und über alles andere, wofür uns diese kleine Kunstform fadenscheiniger Anlass war. Erst in der Volksbühne, dann im Deutschen Theater, jeweils in Berlin. Doch in letzter Zeit fiel es uns immer schwerer, Videos zu finden, die dem Publikumstest standhielten. Mitunter sind wir zu besonders bekloppten oder weltanschaulich fragwürdigen Videos ausgewichen, von Technoschlager bis zu rechtem Hip-Hop. Die Funde außergewöhnlicher und die Zeit prägender Kurzfilme wurden rarer. Zum wunderbaren letzten Album der deutschen Musikerin Stella Sommer und ihres Projekts Die Heiterkeit gab es gleich gar keine Musikvideos.
Aufwendigere Videos findet man heute vor allem auf Erfolgslevels, die nur wenige Künstler erreichen. Und selbst da erscheinen sie nicht mehr allen zwingend. Beyoncé lässt schon länger von ihren Fans aufgenommene Videos ins Netz stellen, das wirkt locker und spart Geld. In Deutschland drehen Musiker oft nur dann Videos, wenn ihnen eine Förderstelle wie die Initiative Musik mit maximal 3.000 Euro hilft. Für dieses Geld hätte man früher gerade mal das Catering bei einem Videodreh gebucht. Vierminütige Popfilme galten in den Achtzigerjahren als Gefahr für die Jugend, weil man dachte, deren Aufmerksamkeitsspanne würde durch die Kurzform abnehmen. In den sozialen Medien reichen manchem Popstar heute 30 Sekunden Selbstgedrehtes, gerne mithilfe von KI. Auch das war ein Grund dafür, aufzuhören mit unserem Popsalon.
Eine erste Antwort auf die oben gestellte Frage lautet also: Das Videozeitalter geht wohl zu Ende. Das allerdings nicht zum ersten Mal. Denn die große Zeit des Musikfernsehens und damit auch der Popvideos war ohnehin schon vorbei, als wir Ende der Nullerjahre erstmals über ein Format wie den Popsalon nachdachten. Das Internet hatte auf Smartphones gerade erst laufen gelernt, und Musikvideos auf YouTube und anderen Plattformen wackelten und stotterten noch. Die Marketingbudgets der Musikindustrie flossen zunehmend Influencern auf Social Media zu, weniger Geld wurde hingegen in Anzeigen in Zeitschriften gesteckt. Und noch weniger in Videos. Das alte Geschäftsmodell Tonträger war Geschichte, das neue, noch ungerechtere Streaming hatte sich noch nicht durchgesetzt.
Musikalischer und technologischer Wandel halfen jedoch, die Kunstform neu zu beleben. Hip-Hop wurde mit Kanye West wieder komplexer und künstlerisch anspruchsvoller, was sich auch in den Videos niederschlug. Gleichzeitig verbesserte sich die Geschwindigkeit des Internets, selbst im W-LAN, das in jede Wohnung einzog, sogar in Teilen Deutschlands (mit Ausnahme der öffentlichen Verwaltung, des Gesundheitssektors, der Schulen und den Zügen der Deutschen Bahn natürlich). Viele Videos sahen nun zwar preisgünstiger aus als zur besten MTV-Zeit, erreichten aber selbst in der Nische ansehnliche Aufmerksamkeit.
Ein Beispiel für Kurioses aus dieser Zeit der Renaissance: HGich.T. Das Kollektiv aus Hamburg veröffentlichte 2010 Trash-Videos mit Titeln wie Hauptschuhle (sic) oder Tutenchamun. Ein Raver mit aufgemalten Zahnlücken in Signaljacke und Windeln lallte Textfetzen kurz vor der Alkoholvergiftung. Es sah aus wie Techno-Ballermann von ganz unten, alles klang schief und maximal torkelig. Und stets blieb unklar, ob das noch Anti-Performance und somit Kunst sein wollte oder schon verballerter Drogenquatsch war. Mittlerweile haben diese Videos bis zu fünf Millionen Views auf YouTube erreicht. Das Publikum lässt sich nicht mehr sauber trennen in Feier-Atzen, linke Kunstschulstudis und gefährdete 13-Jährige. Interessant war das, weil es einen ratlos machte. Heute jedoch würde man HGich.T wohl Klassismus vorwerfen, die Abwertung sozial Benachteiligter. Ungeachtet dessen existiert das Projekt noch immer.
Der Schmerzensmann torkelt
John Grant hingegen sprach in den frühen Zehnerjahren ohne mögliche Ironie-Zwischendecke zur Gegenwart. Explizit von mental health redete 2013 zwar noch kaum jemand, doch der US-amerikanische Musiker sang enthusiastisch von seiner Depression und von seinen Süchten, und mit dem Video zum Titelsong seines Albums Pale Green Ghosts fand er auch die Bilder dafür. Wie ein giftiges Gas siechte ein Grünstich durch den Clip des Schmerzensmannes. Die falsche Farbeinstellung entsprach der Musik, denn die Intervalle in der ersten Strophe klangen leicht schief, wie Grants analoge Synthies etwas verstimmt. So schien alles aus dem Lot, selbst stämmige Männer wie Grant kamen ins Torkeln.
Den Durchbruch in den Mainstream schaffte er auch mit diesem Clip nicht – was zu Zeiten von MTV und Viva noch möglich erschien, haben Musikvideos in den letzten 15 Jahren nur noch in seltenen Fällen leisten können. Wer aber bereits Popstar ist, kann mit einem stilprägenden Video noch einmal ganz neue Levels freispielen. Der Clip des Regisseurs Xavier Dolan zu Adeles Monsterhit Hello war im Herbst 2015 so ein Fall. Der damals erst 26-jährige frankokanadische Arthouse-Regisseur Dolan folgt nur scheinbar dem Thema des Songs, in dem Adele darüber nachdenkt, wie man zu Ex-Partnern wieder einen Draht findet. Mit dem epochalen Refrain „Hello from the other side“ wollte sie uns wohl sagen, dass sie nun erwachsen ist.
Mit solchen Banalitäten hält sich Dolan jedoch nur bedingt auf. Das Video zu Hello handelt von der Frage, was es heißt, ein Star zu sein, es ist ein Kurzfilm über die Unsterblichkeit. Noch vor dem ersten Takt Musik kommt Adele gut frisiert auf einem verlassenen Anwesen an, ihr schon 2015 antikes Klapphandy verliert den Empfang, im verstaubten Haus gibt es ein Schnurtelefon und Adressbücher aus Papier, die Farbe: schwarz-weiß mit Sepiastich. Wir sehen die berühmteste Sängerin des Jahrzehnts, und alles signalisiert Vergangenheit. Adeles Lider sind noch geschlossen, sie atmet gut hörbar ein, und der erste Augenaufschlag in die Kamera fällt mit dem Einsatz des Klaviers zusammen.