Musik aus Großbritannien: Nicht so sauber wie bei Taylor Swift

Ahhhh, das Internet! Lieben wir! (Frei nach Angela Merkel) Nicht nur weil die Google-KI einem zur Hälfte der Zeit einfach Quatsch erzählt, sondern weil es uns ermöglicht, so viele tolle Popmusikerinnen und -musiker zu entdecken wie nie. Einfach mal den Algorithmus auf Youtube und Spotify trainieren, der ist zwar auch eine KI, aber gibt nur Empfehlungen ab, keine (Un-)Wahrheiten. Wer sich in diesem ominösen Internet mal umschaut nach den derzeit global erfolgreichsten Songs, stößt immer mal wieder auf Namen, die nicht allzu geläufig sind. Darum gibt es hier, wie man dort drüben im Netz so schön sagt, einen kleinen Recap:

Nach der Hochphase der amerikanischen Glosspopgirls, die ihren vorläufigen Peak im sehr sauber daherkommenden und trotzdem hörenswerten Taylor-Swift-Album „The Last Showgirl“ erfuhr, kommen jetzt wieder große, soulige Stimmen, die echter, rauer, wahrhaftiger klingen – und sie kommen beinahe alle aus dem Vereinigten Königreich. Lola Young hatte ihren Durchbruch mit „Messy“ zwar schon 2024, doch ihre unverwechselbar kratzige Stimme ist seither nicht mehr wegzudenken aus den Streamingdienst­listen dieser Welt. Sie singt-erzählt, schön britisch eben, mit vielen Schimpfwörtern gespickt, persönliche Geschichten, in de­nen sich wundersamerweise Millionen von Menschen wiederfinden – „Messy“ zum Beispiel gilt in den sozialen Medien als ADHS-Hymne, für alle Menschen mit oder ohne Diagnose, die eine Sache anfangen, dann die nächste anfangen, dann das eine wollen und irgendwie das andere sind. Und dabei immer das Gefühl haben, „too much“ zu sein oder zumindest nicht richtig. Doch auch in Zeiten des Erfolgs verfolgen Young ihre Probleme: Ende September sagte sie alle Konzerte in „absehbarer Zukunft“ ab.

Die Britinnen besinnen sich auf alte Größen des Pop

Lola Young ist trotzdem ein schönes Beispiel für den Sound, der in diesen Tagen aus Großbritannien zu uns herüberschwappt und der gleichsam eine Antithese bildet zum zuletzt so beliebten hochglanzpolierten, augenzwinkernden Pop einer Sabrina Carpenter. Während in den USA Künstlerinnen wie Tate McRae oder Addison Rae, die aus dem Tanz kommen, Stadien füllen, besinnen sich die Britinnen auf alte Größen des britischen Pop wie Amy Wine­house oder Adele.

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Da ist Olivia Dean, die für den Grammy als beste Newcomerin nominiert wurde und so frisch klingt, wie eine alte Seele – und die muss sie bei der Stimme sein! – eben klingen kann. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn Dinge, die es schon lange gab, plötzlich wieder jung sind, neu, aufregend. Olivia Dean macht mit „Man I Need“ einen zurückgelehnten Song, der gar nicht neu sein kann – und doch so beschwingend originell daherkommt, dass man gleich mitsummen muss.

Es sind aber nicht nur Newcomer, deren Pop die Richtung angibt. Florence + The Machine haben etwa Ende Oktober ein hymnisches Album veröffentlicht, auf dem Sängerin Florence Welch einen lebens­rettenden Eingriff nach einer Eileiterschwangerschaft und die damit einhergehende Fehlgeburt verarbeitet. Da ist der übliche Florence-Sound, der nach vorn geht und mitreißend ist. Da sind aber auch tiefe Brüche zu spüren, mit denen Welch zu kämpfen hatte: „Manchmal fühlt sich mein Körper für mich an wie ein Alien“, singt sie.

Mit ähnlich viel Soul wie Olivia Dean, aber einem Hang zu schmutziger Sprache à la Lola Young ist da außerdem Raye. Seit sie sich von ihrem Label trennte und clean wurde (sie hielt den dortigen Druck nach eigenen Angaben nur unter Drogen aus), ist die Sängerin kaum wiederzuerkennen. Spätestens bei ihrem Auftritt bei den Grammys Anfang des Jahres war den meisten klar: Sie ist diejenige, die man gar nicht mehr im Auge behalten muss, weil sie sowieso präsent ist.

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In „Escapism“ sang sie von einer durchgemachten Nacht nach einer Trennung – bei ihren Auftritten im amerikanischen Fernsehen musste sie sich selbst heftig zensieren, aus den Kokain nehmenden Schlampen wurden „Woo“ nehmende Schwestern. Und mit „Where Is My Husband!“ ist Raye, die schon früher oft mit Amy Winehouse verglichen wurde, in diesem Herbst ein Big-Band-Beyoncé-Knaller gelungen, der in wenigen Wochen schon mehr als 140 Millionen Mal auf Spotify gestreamt wurde.

Es ist wohl eine der Errungenschaften der Emanzipation, dass Künstlerinnen nun nicht mehr lieb nach einem Ehemann fragen, sondern ihn forsch einfordern – auch wenn er noch gar nicht existiert. Dabei ist Raye in diesem Song vor allem lustig. Immerhin ist ihre eigene ghanaische Großmutter auf dem Track zu hören, die sie bei den Brit Awards mit auf die Bühne holte, als sie sich für ihren sechsten Preis des Abends bedankte und hemmungslos schluchzte. Die Oma bleibt optimistisch: „Your husband is coming.“