
Eine Waffe hat Milomir Žunić natürlich nicht im Auto, wenn er arbeitet. „Aber einen Schraubenzieher“, sagt er. „Man weiß ja nie.“ Žunić ist 49 Jahre alt, seit 14 Jahren arbeitet er als Zusteller bei der Süddeutschen Zeitung. 14 Jahre Nachtarbeit, Adress- und Namenssuche entlang schummriger Straßenecken. Passiert sei nie etwas, sagt er. Die Arbeit mache Spaß, seit fast vier Jahren ist er auch Verteilstellenleiter in Ottobrunn bei München – „ein Sechser im Lotto“. Also warum genau würde einer wie Žunić – kräftig, groß, selbstbewusst – auch nur erwägen, eine Waffe zwischen die Zeitungsstapel zu packen? „Wenn man nachts unterwegs ist, trifft man manchmal … “, Žunić zögert, „… verrückte Menschen.“
Kürzlich erst sei ihm in der Dunkelheit eine Frau entgegengekommen. „Leicht be-klei-det“; Žunić betont jede Silbe. Für eine Halbnackte, die nachts mitten auf der Straße spaziert, hatte sie ihn zunächst erstaunlich nonchalant in Smalltalk verwickelt. Und plötzlich heftig beschimpft. „Ich hab’ mir gedacht, besser gibst du Gas und haust ab.“
„Unendliche Stille und kein Mensch auf der Straße“ – ein Paradies
Žunić erzählt Anekdoten wie ein Jongleur, der fünf Bälle gleichzeitig in der Luft hält. Er redet Bairisch mit bosnischem Akzent – viel, lebhaft, schnell. Besonders, wenn er von den Dingen erzählt, die ihm wirklich wichtig sind: seinem siebenjährigen Sohn, der bei seiner Ex-Frau lebt, und dem Fußball. „Sechzig Oida“, steht in dicken schwarzen Lettern auf dem rechten Unterarm. Žunić ist Löwe durch und durch. Aber einer, der für seinen Sohn ein Bayern-Trikot besorgen würde, falls der es sich wünschte.
Begegnungen wie die mit der Frau – Begegnungen überhaupt – seien Ausnahmen in Žunićs Job. Ein Segen, wie er findet. „Unendliche Stille und kein Mensch auf der Straße.“ Das sei „das Paradies“. Žunić liebt seine Freiheiten, er schwärmt von der Ruhe und Abgeschiedenheit seines Heimatdorfs im bosnischen Hinterland. Schattenseiten gebe es, wie in jedem Beruf: hohe Belastung, Zeitdruck, Schichten im strömenden Regen und für manche seiner Leute auch die Bezahlung. Einige hätten einen Zweitjob, manche Schicksale seien nur schwer erträglich. Žunić fühlt mit. „Man muss schon hart im Nehmen sein, wenn man den Job macht. Nicht wetterempfindlich. Und vor allem: Nachtmensch.“
Früher war er Installateur
Žunić hatte mit dem Austragen als Übergangslösung begonnen, nachdem er durch die Pleite seines Ex-Arbeitgebers seinen Job als Gas- und Wasserinstallateur verloren hatte. Schnell stieg er dann aber zum Verteilstellenleiter auf, zunächst in Solln, später in Ottobrunn.
Der Dienst beginnt immer gegen 1 Uhr. Er checkt Lieferscheine, sortiert Zeitungen, sucht Ersatz für kranke Mitarbeiter, belädt Autos, macht sich dann auf den Weg zu seinen zwei Stammrouten in Ottobrunn. Danach springt er ein, wo er gebraucht wird. Etwa 200 Zeitungen liefert er aus, um sechs oder sieben Uhr endet sein Arbeitstag.
Den „Playboy“? Hat er nicht
Die schönen Momente? Die Seniorin, die jeden Tag mit dem Frühstück wartet, bis Žunić die Zeitung bringt. Der Senior, der oft nicht schlafen kann und sich freut, wenn er morgens um drei etwas Frisches zu lesen bekommt. Nette Worte, eine Tafel Schokolade, ein Fünfer im Kuvert. Žunić fragt sich manchmal: „Was machen die, wenn es keine gedruckte Zeitung mehr gibt?“ Während er bei den einen erwartet wird wie ein Freund, gibt es bei anderen schon mal Ärger. „Ich verstehe ja, wenn sich Leute aufregen, weil die Zeitung nicht pünktlich kommt. Aber die Leute verstehen uns nicht.“ Späterer Andruck, Krankmeldungen, überhaupt Personalmangel – in den wenigsten Fällen sei der Zusteller schuld.
Und dann gibt es auch die verrückten Begegnungen. Wie die mit dem jungen Mann, der neulich auf dem Heimweg von einer Party ein Blatt haben wollte. Den Playboy. „Ich hab’ ihm die Süddeutsche gegeben“, sagt Žunić. „Genommen hat er sie. Ob er damit glücklich geworden ist – ich weiß es nicht.“