
22. Oktober 2025 · Der finnische Möbelhersteller Artek wird 90 Jahre alt und behauptet sich zwischen einem großem Erbe und den Herausforderungen der Gegenwart. Zum Geburtstag schenkt sich das Unternehmen Wald.
Finnland im Jahr 1935: eine junge Demokratie an der nördlichen Peripherie Europas, die noch an den Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise leidet. Viele Menschen sind arm, die Arbeitslosigkeit ist hoch, anders als in Schweden und Dänemark ist die Industrialisierung noch nicht fortgeschritten. Der größere Teil der rund 3,6 Millionen Finnen lebt von der Landwirtschaft. Im Osten droht der übermächtige Nachbar Sowjetunion, während im Inneren Konflikte zwischen der finnischsprachigen Mehrheit und der schwedischen Minderheit schwelen. Aus heutiger Sicht erscheint das Finnland des Jahres 1935 wohl kaum als der richtige Ort, ein Unternehmen zu gründen mit dem Zweck, moderne Möbel zu produzieren und zeitgenössische Kunst und Wohnkultur zu fördern.
Doch genau das tun Aino und Alvar Aalto, Maire Gullichsen und Nils-Gustav Hahl am 15. Oktober 1935 in Helsinki, als sie die Vereinbarung zur Gründung von Artek unterzeichnen. In einem Manifest formulieren sie die drei Säulen ihres Unternehmens: moderne Kunst, Industrie und Interiordesign sowie Propaganda. Das erklärte Ziel am Ende des einseitigen Papiers: „verstärkte weltweite Aktivitäten“. Die vier sind offensichtlich getragen von einem stabilen Selbstbewusstsein und der Überzeugung, dass sie Finnland und dem Rest der Welt etwas zu geben haben.
Sie waren aber auch die besten Kandidaten für so ein ambitioniertes Vorhaben. Aino und Alvar Aalto galten seit dem von ihnen entworfenen Tuberkulose-Sanatorium in Paimio aus dem Jahr 1933 als die wegweisenden Architekten Finnlands. Inspiriert von Strömungen der Moderne wie dem Bauhaus, hatten sie für den kleinen Ort in Südwestfinnland einen strahlend weißen Bau konzipiert, der europaweit Beachtung fand – inklusive der eigens entworfenen Möbel, die in Ausstellungen in London und Mailand zu sehen waren.
Alvar Aaltos Studio in HelsinkiFoto: Mauritius
Die Künstlerin und Industriellentochter Maire Gullichsen wiederum gehörte wie die Aaltos zu den intellektuellen Zirkeln des Landes und propagierte Kunst und Architektur der Moderne. Zuletzt der international bestens vernetzte Kunsthistoriker Nils-Gustav Hahl, der die Gruppe zusammengebracht hatte und erster Geschäftsführer wurde. Mit dem Namen Artek, einer Synthese aus „Art“ und „Technology“, lehnten sie sich an das Motto des Bauhauses an: „Kunst und Technik. Eine neue Einheit“. Die Vision der vier hat sich jedenfalls erfüllt: In diesem Jahr feiert Artek seinen 90. Geburtstag. Und hat sich bis heute als international relevante Designmarke behaupten können – mit einer besonders leidenschaftlichen Anhängerschaft in Japan und Südkorea.
So umfasst das Produktportfolio bis heute – neben vielen neueren Entwürfen – die Möbel aus Birkenholz, die Alvar Aalto seit den späten Zwanzigerjahren entwickelt hatte. Dazu gehören der Hocker Stool 60 von 1933, auf den der überstrapazierte Begriff Ikone wirklich passt. Und der geschwungene Paimio-Sessel, 1932 für das Sanatorium entstanden. Daneben Tische in verschiedenen Größen, Stühle und kleinere Objekte wie Borde und Schirmständer.
„Wir sehen uns als aktive Spieler im Hier und Jetzt und nicht als reine Erhalter.“
Aaltos Möbel waren der Nukleus von Artek – und sie bekamen schon kurz nach der Gründung eine Bühne: das erste Geschäft, 1936 in Helsinki eröffnet. Aino Alto war als Kreativdirektorin der Marke verantwortlich für die Gestaltung der Räume und das Sortiment, zu dem von Anfang an nicht nur eigene Produkte gehörten. Aino Aalto brachte von ihren Reisen beispielsweise marokkanische Teppiche und dänische Keramik mit und schuf ein ausgewähltes Angebot, wie man es heute von Concept Stores kennt. Das Geschäft sollte ein Ort sein, an dem moderne Lebenskultur und Einrichtung erfahrbar sind. Regelmäßig waren Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst zu sehen. Die Bedeutung von Artek im heutigen Finnland lässt sich auch daran erkennen, dass es immer noch mitten im lebhaften Zentrum von Helsinki ein großes Geschäft gibt. Eine vergleichbare Präsenz eines Möbelherstellers in einer deutschen Großstadt wäre kaum vorstellbar.
Erste Adresse: Schon 1936 öffnete Artek ein großes Geschäft im Zentrum Helsinkis, für dessen Gestaltung Aino Aalto als Kreativdirektorin der Marke verantwortlich war.
Die Artek-Hauptstadt ist zweifellos Helsinki. Doch um das Unternehmen ganz zu verstehen, muss man auch nach Turku fahren. In einem gesichtslosen Gewerbegebiet steht dort eine Ansammlung von Fabrikgebäuden: die A-Factory, der Geburtsort von Artek. Hier setzte Alvar Aalto mit dem Möbelfabrikanten Otto Korhonen seit Ende der Zwanzigerjahre seine Entwürfe um. Und hier fertigt das Unternehmen bis heute alle Aalto- Möbel, seit 2013 in Eigenregie. Vor zwölf Jahren übernahm der Möbelhersteller Vitra Artek – und kaufte auch gleich die Fabrik, die bis dahin als Zulieferer andere Eigentümer gehabt hatte.
Nur die Mitarbeiter der A-Factory verfügen über das Wissen und die Fähigkeiten, Aaltos Entwürfe herzustellen. Das liegt vor allem am Material: Birkenholz war für Aalto damals eine naheliegende Wahl, weil in Finnland gut verfügbar. Aber anders als die in Mitteleuropa weit verbreiteten Möbelhölzer wie Buche und Eiche ist Birke schwierig zu bearbeiten. Um es in die weichen, organischen Formen zu biegen, die Aalto vorschwebten, musste er mit Korhonen neuartige Fertigungsmethoden entwickeln. Wie etwa beim L-Leg, einem standardisierten, L-förmigen Bauteil, das je nach Größe als Bein für Hocker, Stühle und Tische dient und den Systemgedanken der Aalto-Möbel verkörpert. In ein Stück Birkenholz werden zunächst mehrere Schlitze geschnitten. Darin werden Furnierstreifen eingeleimt, dann kann das Stück unter Druck gebogen werden.
„Das sind ganz spezifische Holzverformungsmethoden, die nur wir so anwenden“, sagt Noch-Geschäftsführerin Marianne Goebl. Zu Korhonens und Aaltos Zeiten war das aufwendige Handarbeit, sechs Stunden dauerte es, bis ein L-Leg geformt war. Heute erledigt eine automatisierte Fertigungsstraße das Ganze in sechs Minuten. Mit der Übernahme durch Vitra waren die Mittel da, die veraltete, ineffiziente Produktion zu modernisieren. Doch trotz all der Roboterarme, die in der A-Factory ihr zackiges Industrieballett aufführen, gibt es für die rund 60 Mitarbeiter immer noch viel zu tun. Die mehrfach gebogenen Seitenteile des Paimio-Sessels beispielsweise werden mit viel Muskelkraft in Formen gepresst. Für Goebl ist die eigene Produktion etwas Besonderes, das Artek von anderen Möbelmarken unterscheidet, die ausschließlich mit Zulieferern arbeiten. „Für uns heißt das volle Verantwortung, volle Transparenz. Es gibt keine Ausrede, nicht zu wissen, wie produziert wird.“
Marianne Goebl hat diese Verantwortung nie als Bürde begriffen, sondern als Aufforderung, darüber nachzudenken, wie sich die Auswirkungen auf die Umwelt verringern lassen. Vor einigen Jahren holte sie sich dafür prominiente Hilfe: das italienische Gestalterduo Formafantasma. Andrea Trimarchi und Simone Farresin sind bekannt für ihre recherchebasierte Arbeitsweise, mit der sie Design- und Herstellungsprozesse untersuchen. Für eine Ausstellung in London hatten sie sich schon mit Forstwirtschaft und Holzindustrie beschäftigt. Mit entsprechend geschärftem Blick durchleuchteten sie Arteks Lieferketten und die ökologischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Produktion. „Für mich sicher eines der Highlights der vergangenen zehn Jahre“, sagt Goebl. Ein Ergebnis: Seit einem Jahr bietet Artek einige Aalto-Möbel in einer „Wild Birch“-Version an. Dafür wird das Holz weniger streng ausgewählt als bisher, die Hocker, Stühle und Tische sind nicht makellos, sondern können Astlöcher, Verfärbungen und andere Unregelmäßigkeiten aufweisen. So fällt weniger Ausschuss an – und weniger Bäume müssen gefällt werden.
Ein anderer Vorschlag von Formafantasma wird gerade umgesetzt: Um mehr Kontrolle über die Lieferkette zu erlangen, kauft Artek Waldflächen in Finnland an, 100 bis 150 Hektar sind das Ziel. Verantwortungsvoll zu handeln bedeutet für ein holzverarbeitendes Unternehmen auch, die Quelle des Materials in den Blick zu nehmen. In Finnland wird Holz meistens in Kahlschlägen geerntet. Dabei wird viel CO2 aus dem Boden freigesetzt, wie Goebl berichtet. Bei selektiveren Erntemethoden passiere das nicht. Als Waldbesitzer möchte Artek schonend und umweltverträglich wirtschaften. „Wir wollen mittelfristig einen gewissen Prozentsatz unseres jährlichen Bedarfs aus dem eigenen Wald decken.“
Eine kleine Seitenstraße in Helsinkis Stadtzentrum, nur wenige Minuten zu Fuß entfernt vom Artek-Geschäft: Hier hat das Unternehmen einen zweiten Standort namens „Artek 2nd Cycle“. Auch wenn der Laden in einem geräumigen Souterrain weniger repräsentativ ist, verkörpert er die Marke genauso wie der schicke Showroom in bester Lage. Seit 2011 verkauft Artek hier ausschließlich Secondhand-Produkte, die Aalto-Klassiker, aber auch andere Möbel aus dem Portfolio wie die von den finnischen Designern Ilmari Tapiovaara und Yrjö Kukkapuro. Dicht an dicht stehen die Stücke, dazu Geschirr, Leuchten, Körbe und Teppiche. Alle Objekte zeigen Gebrauchsspuren, man sieht ihnen ihr gelebtes Leben an: Die Holzoberflächen sind nachgedunkelt und stellenweise fleckig, Lacke haben Fehlstellen und Kratzer, Leder legt sich in Falten. Nur die Bezüge einiger Polstermöbel sind erneuert und leuchten frisch. Seit fast 20 Jahren kauft Artek alte Möbel und Leuchten zurück – und war damit Vorreiter in einer Industrie, die lange vor allem auf den Reiz des Neuen setzte. „Immer mehr Gestalter wollen gebrauchte Produkte in ihren Einrichtungsprojekten einsetzen“, sagt Goebl. „Dabei spielen auch Vorgaben der öffentlichen Hand für neue Gebäude eine Rolle, wenn gebrauchte Produkte vorgeschrieben sind.“ So ist der Laden längst kein Geheimtipp unter Sammlern und Liebhabern mehr und hat eine Onlinepräsenz.
Aktuelle Entwürfe im Programm: die Leuchtenserie Kori vom Stockholmer TAF Studio.
„2nd Cycle“ ist ein Beispiel dafür, wie Artek Geschichte und Gegenwart verbindet. Denn ein großes gestalterisches und kulturelles Erbe, wie es die Identität des Unternehmens ausmacht, hat seine Tücken: Wenn man sich nur der Pflege des Bewährten widmet, kann man in der Vergangenheit steckenbleiben. „Für uns ist die Gegenwart wichtiger“, sagt die Noch-Geschäftsführerin. „Wir beschäftigen uns natürlich damit, wie die Entwürfe aus einer anderen Zeit heute aktuell bleiben, in einem Dialog mit der Vergangenheit. Aber wir sehen uns auf jeden Fall als aktive Spieler im Hier und Jetzt und nicht als reine Erhalter.“ So bringt das Unternehmen regelmäßig neue Produkte heraus, die mit zeitgenössischen Designern entwickelt wurden, zuletzt etwa die Leuchtenserie Kori vom Stockholmer TAF Studio.
Daneben initiiert man Kooperationen mit anderen Marken. Zum Jubiläum gibt es die erste Zusammenarbeit mit Marimekko. Drei der berühmten Muster des Textilherstellers, Seireeni, Kivet und Lokki, wurden übersetzt in Birkensperrholz und zieren die Sitzflächen von Hockern, Bänken und die Platten von Beistelltischen aus der Aalto-Kollektion. Daneben legte man drei Produkte aus dem Archiv neu auf, den Raumteiler Screen 100, den kleinen Schrank Cabinet 250 und den Hocker Stool X602. „Was mich freut: Artek steht voll im Saft. Wir wissen, wer wir sind, und unsere Kunden haben Freude daran. Denn wir machen das ja nicht für uns, sondern für die Menschen, die mit unseren Produkten leben.“
Bei allen neuen Projekten lassen sich Marianne Goebl und ihr Team von den Werten der Gründerinnen und Gründer leiten, wie sie sagt. Damals wie heute gehe es darum, dass die Objekte praktisch und funktional seien, aber auch „Schönheit in den Alltag“ brächten. Sie seien nicht laut, aber hätten Charakter. Den anhaltenden Erfolg des nunmehr 90 Jahre alten Unternehmens erklärt sie sich unter anderem mit dem Material Holz, das die Menschen anspreche, weil es warm, angenehm und vertraut sei. „Artek ist authentisch und greifbar. Je abstrakter und unverständlicher unsere Welt wird, umso beruhigender ist es, wenn etwas verständlich ist.“
Fotos: Unternehmen