Modernisierungsagenda der Bundesregierung: Die Sehnsucht nach dem Ruck

Oben auf dem Dach der Villa Borsig weht die Deutschlandflagge, unten im Garten blinzeln Bundeskanzler Friedrich Merz, Finanzminister Lars Klingbeil und Innenminister Alexander Dobrindt gegen die tief stehende Herbstsonne. Die Journalisten tragen dicke Jacken – aber die drei Politiker harren in ihren marineblauen Anzügen aus. Dass sich die wichtigsten Vertreter der Bundesregierung für ihren Auftritt nach der ersten gemeinsamen Regierungsklausur warm anziehen, das hätte wohl nicht zu ihrer Botschaft gepasst.

Diese lautet: Jetzt wird in die Hände gespuckt! „Wir haben den Anspruch, dass wir wieder an die Spitze kommen“, sagt Kanzler Merz. „Wir sind uns einig, dass der Status quo der Gegner ist“, konstatiert Klingbeil. „Wir wollen, wir können und wir werden Deutschland voranbringen“, formuliert Dobrindt. 

Und tatsächlich präsentiert sich die Koalition bei ihrem zweitägigen Treffen in der Villa Borsig im demonstrativen Arbeitsmodus: Eine Modernisierungsagenda mit 23 sogenannten Hebelprojekten wurde verabschiedet – die meisten davon sollen dem Bürokratieabbau gelten oder es Gründern im Land leichter machen. Von vielen Bürgern lange ersehnt und daher von Merz bei der Pressekonferenz auch als eine Art digitale Revolution hervorgehoben: Die Kennzeichenzulassung fürs Auto soll künftig unkompliziert online erfolgen. Außerdem einigte sich das Kabinett auf eine „Hightech“-Agenda, einen „Bauturbo“, einen „Aktionsplan Fusionskraftwerk“ und eine Wasserstoffstrategie. 

Was steckt hinter dem „Geist von Borsig“?

Über all diese Themen sei lange, schon zu Zeiten der Vorgängerregierung, gesprochen worden, sagt der Kanzler stolz: „Jetzt werden sie beschlossen.“ Ziel sei es, diese und viele weitere Vorhaben noch vor Weihnachten durch den Bundesrat zu bekommen.  Sein Vize Klingbeil geht sogar so weit, die schwarz-rote Modernisierungsagenda als „Haltungsfrage“ zu bezeichnen: Die Bundesregierung wolle es den Leuten erleichtern, ein Unternehmen zu führen oder ein Haus zu bauen. So etwas, sagt der SPD-Chef, mache ja schon lange „keinen Spaß mehr“.  

Und schließlich wurde noch der „Geist der Villa Borsig“ beschworen. Dieser habe sich bewährt, sagte Dobrindt stolz. Dass sich die Koalition in der Villa hier im Norden Berlins am Tegeler See trifft ist neu: Viele Jahre lang hatten die Kanzler und Minister der Bundesregierung ihre Klausurtagungen im Schloss Meseberg rund eine Stunde entfernt von Berlin abgehalten, inklusive Übernachtung. Kanzlerin Angela Merkel und Olaf Scholz führten dort ihre Teambuildingmaßnahmen durch – trotz demonstrativer Schneeballwürfe und gemeinsamer Abende bei gutem Wein führte der „Geist von Meseberg“ zuletzt nicht mehr zum Erfolg. Vor allem mit der Ampelregierung will das Kabinett Merz auf keinen Fall verglichen werden. 

Der Kanzler lud also nicht ohne Hintergedanken an einen neuen Ort: den Landsitz des Großindustriellen Ernst von Borsig in Berlin-Tegel. Borsig hatte im 19. und 20. Jahrhundert ein Vermögen mit Dampflokomotiven gemacht – damals eine der entscheidenden Technologien, mit denen die Industrialisierung vorangetrieben und ein modernes Zeitalter geprägt wurde. 

Die Stimmung im Land wird nicht besser

Viele schöne Symbole also – das Problem ist nur, dass die demonstrative Arbeitswut der neuen Regierung sich nicht in der Laune der Menschen niederschlägt. Merz, der Anfang Mai ins Amt kam, hatte den Deutschen eigentlich einen Stimmungsumschwung bis zum Sommer versprochen. Heute steht die AfD in Umfragen auf Platz eins, in einer neuen Erhebung, die zum Kabinettstreffen veröffentlicht wurde, liegt die in Teilen rechtsextreme Partei mit 27 Prozent drei Punkte vor der Union. Auch die Beliebtheitswerte von Merz persönlich sind mau. 

Über weite Teile des Sommers versanken Union und SPD außerdem im Streit: über die Richterwahl, mögliche Kürzungen beim Bürgergeld oder die Israelpolitik der Bundesrepublik. Es wirkt daher doch reichlich bemüht, dass der Kanzler im Park vor der Villa Borsig sagt, es gäbe eine „sehr, sehr gute, sehr kollegiale, sehr offene Arbeitsatmosphäre“, um diese Aussage im nächsten Satz leicht abgewandelt („offene partnerschaftliche Zusammenarbeit“) zu wiederholen. 

Und tatsächlich, so erzählen es Teilnehmer der Klausur, ist die Atmosphäre bei den internen Gesprächen eher ernst bis sorgenvoll gewesen. Vor allem die schlechten Nachrichten aus der Industrie machten Eindruck auf die Koalition. Am Dienstag hatte das Kabinett mehrere Expertinnen und Experten zum Thema Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zu Gast. Den zentralen Impuls setzte der Ökonom Markus Brunnermeier, der an der Princeton University lehrt. Sein Thema: Wie schafft es ein Land, sich an unwägbare Situationen anzupassen? Wie bleibt es stabil und gleichzeitig flexibel?