Mitsprache: Wie viel sollten Kinder entscheiden? – Gesellschaft

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die erste Hälfte dieses Monats habe ich mit meiner Co-Chefin und unseren Mitarbeitern in Italien verbracht. Erst in der Toskana, dann in Neapel, an der Amalfiküste, dann auf der anderen Seite drüben am Gargano. Nein, das war kein langer Redaktionsausflug. Ich war mit der Familie dort, Sommerurlaub!

Warum dann diese Arbeitsmetapher? Die habe ich mir von Maria M. Bellinger geklaut, einer Psychotherapeutin, die viel zu den Dynamiken innerhalb von Familien zu sagen hat. „Gute Elternschaft ist vergleichbar mit Mitarbeiterführung“, sagte sie im Interview mit meiner Kollegin Carolin Fries – es ging unter anderem um die Frage, wie viel Kinder in einer Familie mitentscheiden sollten: Sind Fünfjährige zum Beispiel in der Lage, sich bei der Auswahl eines Urlaubsziels schon wirklich sinnvoll einzubringen?

Unsere Kinder sind sieben und zehn Jahre, hätten sie in diesem Urlaub alles entscheiden dürfen, hätte das Programm in etwa so ausgesehen: Fußball im Stadion gucken, Fußball auf dem Fernseher in der Ferienwohnung gucken, Fußball am Strand spielen, Fußballhörspiele im Zelt hören. Eher nicht im Programm gewesen wären: Ruinen gucken in Pompeji, in den Krater vom Vesuv spucken, Höhlen entdecken an der Steilküste, am Schildkröten-See oben in den Bergen Schildkröten füttern. Zu all den Dingen haben wir die Kinder eher überredet, Spaß gemacht haben sie ihnen dann aber trotzdem.

Und ja, da hat Maria M. Bellinger schon recht: Manchmal erinnerten mich diese Gespräche ein wenig an die Arbeitswelt. In der kommt es ja mittlerweile nicht selten vor, dass eine Vorgesetzte oder ein Vorgesetzter scheinbar ergebnisoffen einen Vorschlag macht, anstatt Dinge einfach anzuordnen. Da werden dann viele gute Argumente vorgebracht, die sicher alle ihre Gültigkeit haben, nicht ausgesprochen wird aber, dass sich die Führungskraft insgeheim schon längst festgelegt hat. Am Ergebnis ist nichts zu rütteln, aber man hat wenigstens darüber gesprochen – und den Mitarbeiter „abgeholt“, wie es heute so schön heißt.

Um derlei eher alberne Demokratie-Simulationen zu vermeiden – und auch, um endlose Diskussionen über die Sinnhaftigkeit des Erwerbs von Fußballstickern aus der ersten italienischen Liga abzukürzen – habe ich in der zweiten Hälfte des Urlaubs die Methode gewechselt: Entscheidungen unter Berücksichtigung der Kinderwünsche getroffen, dann aber eher bekanntgegeben und erklärt, aber keine totale Ergebnisoffenheit vorgetäuscht. Die Jungs haben es ganz gut aufgenommen. Und sind auf der Heimfahrt aus dem Urlaub – auch hier ähneln Familien manchmal Unternehmen mit Führungskräften und Mitarbeitern – sofort in Tarifverhandlungen getreten. Neues Schuljahr, neue Taschengeldsätze!

Ein schönes Wochenende wünscht

Moritz Baumstieger