Mit fünf blind, mit 32 von den Würmern gefressen

In den Neunzigerjahren war musikalisch schon einiges abgegrast. Doch viele Bands erkannten, dass musikalische Innovation in der Kombination noch nie gehörter Elemente zu erreichen war. So verband zum Beispiel Portishead Dubrhythmen in Zeitlupe mit Lalo-Schifrin-Melodien, Rage Against The Machine brachte knüppelharte Gitarren mit aggressivem Rap zusammen und Stereolab mischte Chanson, Krautrock und Shoegaze zu einem süffigen Cocktail. Diese Liste ließe sich beliebig weiterführen. Ein Charakteristikum des Zeitalters.

Auch Tindersticks sind solche Bastarde, aber auf eine vielleicht noch charmantere Weise. Als die Band aus dem englischen Nottingham Mitte des Jahrzehnts ins Rampenlicht der Indieszene rückte, fiel es schon schwer, passende Referenzen für ihre faszinierende Musik zu finden. Mit Verweisen auf Tom Waits, Scott Walker und die Walkabouts kam nur weiter, wer die Bariton-Stimme von Sänger Stuart Staples charakterisieren wollte.

Die Musik dagegen lag völlig zwischen den Stühlen. Ein Rezensent des „Musikexpress“ hat das für das zweite selbstbetitelte Album vielleicht am besten auf den Punkt gebracht. Sinngemäß schrieb er, die Platte klinge so, als komme man nach einer langen Nacht in einen Raum, in dem Menschen zusammensitzen, die letzten Sätze seien gesagt, die Luft vom Rauch geschwängert, irgendwo in der Ferne perle ein Klavier. Und dann (man halte sich fest) setzt zu allem Überfluss auch noch eine Singende Säge ein.

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Zu dem Eindruck trugen die großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien im Schallplatten-Umschlag bei, die sich nicht sofort den Namen darauf zuordnen ließen. Gut gekleidete britische Dandys in holzvertäfelten Räumen, die angeregt über etwas zu diskutieren schienen, das eine kaum erfassbare Bedeutung zu haben schien. Und dann die Titel der Songs: „Vertrauen II“, „Snowy In F# Minor“, „Vertrauen III“, wobei die beiden deutschsprachigen Titel Instrumentalstücke waren, in denen besagte Singende Säge, zu einem Autohupen-Chor anschwellende Trompeten und im Opener „El Diablo En El Ojo“ eine grummelnde Hammondorgel erklangen.

Die Hinwendung zum Film war folgerichtig

Diese ungewöhnliche Grundstimmung der Band unterstrichen ganz leicht verstimmte Instrumente, überschwängliche Streicher und spannungsreiche Dramaturgien. Auf späteren Alben perfektionierten sie diesen Sound zu einem Neunziger-Jahre-Crooner-Pop, der das, was er am anfänglichen kreativen Dilettantismus einbüßte, durch Blue-Eyed-Soul-Knackigkeit wieder kompensierte. Auf diese Weise wurde die Band auch zum idealen Kooperationspartner für die introspektiven Filme der französischen Regisseurin Claire Denis, für die sie sechs Soundtracks schrieb.

Der Song „My Sister“ ist ganz sicher ein Höhepunkt im Oeuvre der englischen Band, das zentrale und mit mehr als acht Minuten auch längste Stück von „Tindersticks II“. Es enthält alle zuvor genannten Elemente, die sie so faszinierend und schwer einzuordnen machen – auch die Singende Säge. Vibraphon, Bass, Klavier, Akustikgitarre, Orgel, Cello, Posaune und Trompete kommen nacheinander zum Einsatz und kreieren ein dichtes Soundgeflecht voller ineinandergeschobener Motive, die wiederkehren und sich gegenseitig beflügeln.

Inhaltlich ist der Song erst recht ungewöhnlich. Zwischen Horrorfilm und persönlichem Drama erzählt Staples mit seiner markanten tiefen Stimme die ergreifende fiktionale Geschichte der Schwester des lyrischen Ichs, die im jungen Alter erblindet, nie wieder auf die Füße kommt, unabsichtlich das eigene Haus mit Todesfolgen ansteckt und nach einem schwierigen Leben jung selbst ablebt. Staples trägt das als lakonischer Spoken-Word-Song zu den schräg-schönen Melodien seiner Bandkollegen vor.

Erinnerungsstrom vor dem Grab der Schwester

Den Auftakt von „My Sister“ teilen sich ein Vibraphon und der E-Bass, der ein Riff spielt, das in den ersten Minuten die Dynamik des Songs erzeugt. Das Vibraphon bringt den weichen Klang des Instruments ein. Ein zurückhaltendes Schlagzeug kommt hinzu. Nach einigen Takten setzt Staples mit seinem Gesang ein. Das lyrische Ich spricht die Verstorbene direkt an. Dabei ist schon diese Ansprache eine literarische Figur, die einen Erinnerungsstrom vor dem Grab der Schwester imitiert.

In einem inneren Monolog erinnert es an den ungewöhnlichen Charakter des Mädchens. Persönliche Charakterisierungen (sie machte viele Fehler, hatte aber die Gabe, mit einem Blick die Tiefe einer Seele zu erfassen) mischen sich mit Beobachtungen („nie blinzelnde Augen“) und einem ihr per Zitat zugeschriebenen Lebensmotto (Ich bin hier, das bin ich, Ich bin dein, alles was du siehst, wenn du nur genau genug hinschaust).

Nach dem Vers, der auf „hard enough“ endet, setzt das zentrale musikalische Motiv des Stücks, vom Klavier vorgetragen, ein, mehr ein Arpeggio als eine Melodie, aber durch die stete Wiederholung ungeheuer wirkungsvoll. Über dieses Motiv legt Staples wieder seinen Sprechgesang – mit einer Selbstkritik des lyrischen Ichs, nie in der Lage gewesen zu sein, die Schwester in der Tiefe erfasst zu haben. Das gemeinsame Leben beschreibt es im übertragenen Sinn als eine Kissenschlacht: der erbitterte Streit um die Bettdecke, das Messer, mit dem sie die Reifen des Bruders aufgeschlitzt hat, ist eine Anspielung auf die Tragödie, die folgt. Nie habe er ihr diesen Angriff auf seinen Besitz verzeihen können.

Schicksalsschläge werden ohne Emotion vorgetragen

Dann folgt der biographische Einschnitt in der Erzählung, die Staples scheinbar ohne jegliche emotionale Anteilnahme vorträgt: Mit fünf erblindete die Schwester. Die Schilderungen deuten darauf hin, dass sich das Verhältnis der Geschwister daraufhin verbessert habe. Ihre Nähe entsteht, weil sie gemeinsam am Fenster stehen und er ihr seine Eindrücke schildert: die Häuser gegenüber, Grasflecken auf dem Weg und das defekte Gartentor, das der Vater nie reparieren wird. Statt diese Bilder zu verarbeiten – und nun setzt die Musik aus – entwickelt sie ihre eigenen Visionen. Der Text wird von einer flüsternden Frauenstimme gedoppelt:

Sie könne aufblitzende Sterne sehen wie Weihnachtslichter in fernen Fenstern, Ringe aus leuchtenden Steinen, die auf gelben und orangen Planeten entlang fließen. Fische mit Tigerstreifen, die blauen und gelben Linien nachjagen, überall Schwänze, Flossen und Blasen. Darauf setzt eine rhythmisch gespielte Akustikgitarre ein, die nun mit dem Vibraphon zur dominanten Klangfarbe wird. Dem Erzähler ist es noch eine Anmerkung wert, dass er auf das graue Haus gegenüber schaute und dann die Vorhänge schloss.

Ohne jegliche Änderung in der Intonation wird die tragische Geschichte weiter ausgebreitet. Mit zehn Jahren brennt die Schwester das Haus ab, nachdem sie im Bett geraucht hat. Der Erzähler habe es nicht miterlebt, weil er unterdessen mit den Pfadfindern gezeltet hat. Unterschiedslos wird erwähnt, dass dabei die Katze und die Mutter (wohlgemerkt in dieser Reihenfolge) ums Leben gekommen sind. Daraufhin verfrachtete der Vater sie zur Tante aufs Land, um in London nach einem neuen Haus zu suchen. „Wir sahen ihn nie wieder“, resümiert der Erzähler.

Immer mehr Instrumente schaffen eine dichte Stimmung

Zwischenzeitlich entfaltet die Gitarre ein zweites markantes Motiv, ebenfalls mehr aufgespaltener Akkord als Melodie. Sie bestimmt die musikalische Dramaturgie der restlichen fünf Minuten des Songs. Streicher setzen ein. Und dann auch die Singende Säge.

Die nächsten Katastrophen stehen bevor. Mit 13 zieht sich die Schwester einen Kopfbruch zu, als sie betrunken in einen Brunnen fällt. Wie durch ein Wunder gewinnt sie bei der Genesung das Augenlicht zurück. Als Vorsatz teilt sie mit, von nun an nicht mehr zu blinzeln, wie schon in der Einleitung angekündigt. Der Bruder gibt der Schwester mit, ihre weit geöffneten feuchten Augen erinnerten ihn an den Brunnen, in den sie gefallen sei. Sie erwidert, das bringe sie zum Lachen.

Minderjährig zieht sie bei einem Sporttrainer ein, den die Affäre seinen Job kostet, da in einer Kleinstadt nichts unbeobachtet bleibt. Trotzdem habe sie ihren Kopf immer aufgerichtet gehalten. Fünf Jahre sei sie mit ihm zusammengeblieben – aus Liebe. Dann aber habe er seine Fassung verloren und sie mit einem Sportgerät so stark verletzt, dass ihre rechte Körperhälfte gelähmt blieb. Nun setzt die Posaune mit dem zuvor von der Gitarre gespielten Motiv ein.

Das brutale Ende einer Affäre

Die dreijährige Freiheitsstrafe des Trainers wurde auf 15 Monate verkürzt. Danach seien sie ihm noch einmal begegnet, als er ein Fußballteam in Cornwall (das keiner Liga angehörte) trainierte. Dem Trainer sei das aber nicht aufgefallen. Die Schwester habe wegen des Bewegungsmangels deutlich an Gewicht gewonnen. Ein Spiel zwischen den Geschwistern besteht darin, dass er sie piekst und mit heißen Zigaretten in ihrer rechten Hand traktiert und sie es nicht spürt. Beim Armdrücken ist er ihr unterlegen, selbst wenn er einen zweiten Arm zur Hilfe nimmt.

Für den letzten Part der Erzählung setzt der Shuffle-Rhythmus des Schlagzeugs wieder aus, um den Worten ihre volle Wirkung zu überlassen. Auch das frühe Ende mit 32 Jahren trägt das lyrische Ich im selben lakonischen Ton vor wie die gesamte schicksalhafte und tieftraurige Geschichte: In dem Alter schon müssen sie die Schwester beerdigen. Erzähler, Tante, der Vikar und der Mann, der das Loch buddelt, bilden die kleine Gesellschaft. Die Schwester habe verfügt, nicht verbrannt zu werden. Ein günstiger Sarg werde es den Würmern erlauben, schnell zu ihr durchzudringen. Sie habe gesagt, dass ihr das als Idee zusagte. Der Erzähler indes vermutet einen Zusammenhang (Achtung Reihenfolge!) zu dem, was mit der Katze und ihrer Mutter geschah.

Die darauf folgenden drei Minuten bringen noch mehr Bläser und variieren die diversen einfachen musikalischen Motive, die zuvor angelegt worden sind. Die Trompete übernimmt die Führung. Das Schlagzeug leistet sich einen kleinen Ausraster. Und die Singende Säge kreiert zum Ende hin eine schräge Stimmung.

Die Wirkung entfaltet das gesamte Ensemble

Nichts an „My Sister“ ist virtuos. Der Text des Spoken-Word-Vortrags ist literarisch, aber keine höhere Prosa. Der Gesang ist markant, aber technisch nicht herausragend. Die Motivik ist einfach, aber effektiv. Und das macht die besondere Wirkung dieses frühen Tindersticks-Meisterstücks aus: Erst im Ensemble entfaltet es seinen vollen Effekt. Der Einsatz der unkonventionellen Instrumente, das tatsächlich scheinbar in der Ferne perlenden Klaviers, die pathetischen Streicher gehen mit dem ambivalenten zwischen Horror und Drama schwankenden Text eine kongeniale Verbindung ein.

Nach Auffassung von Sänger Staples hat der Song damit das Tor geöffnet für die Welt des Kinos. Auf die Frage des englischen M-Magazins, warum die Musik der Tindersticks immer wieder als kinematographisch beschrieben worden sei, stellte er diese Beobachtung in einen Kontext mit diesem Stück. „Ich denke, das ist aufgekommen wegen eines Songs, den wir geschrieben haben, der ‚My Sister‘ heißt. Das ist ein wirklich verspielter Song. Ich glaube aber, dass er kein bisschen filmisch ist.“ Doch zumindest die Regisseurin Denis habe sehr stark auf dieses Element ihrer Musik angesprochen. Staples dagegen verbinde mit dem Song vor allem Raum für Ideen. „Es ist wichtig. Zweifel und Raum zu lassen.”

Die Formel von „My Sister“ hat die Band auf späteren Alben immer wieder angewandt, ohne den Song zu kopieren. Nach den bahnbrechenden ersten drei Alben haben Tindersticks etwa eineinhalb Jahrzehnte nach dem Debüt um das Jahr 2010 herum noch einmal zu einem späteren Karrierehöhepunkt angesetzt. Die Singende Säge wich einem etwas festeren Soundgerüst. Aber die Dynamik auf einfachen Melodien, die sich die Band teilt, ist auch auf diesen Aufnahmen noch zu hören.

Tindersticks sind in einer Nische geblieben, die nicht ganz unerheblich ist. Für den Mainstream waren sie zu verschroben. Trotz der Anleihen an den Soul der sechziger und siebziger Jahre haben sie nie Hits fürs Radio oder Youtube geschrieben. Aber sie haben eine Reihe von Alben aufgenommen, die für die Vielfalt der Ära ihrer Anfangszeit stehen und unkonventionelle Ideen, den großen Crooner-Gestus der Las-Vegas-Sänger mit dem Do-It-Yourself-Geist des Postpunk zusammenbrachten. Und sie traten als Ensemble auf, das ein Ganzes schuf, das weit mehr als die Einzelteile war. Damit sind sie eine prototypische Band der stilistisch offenen Neunziger, deren Erbe man nicht vergessen sollte.

Tindersticks – My Sister

Do you remember my sister? How many mistakes did she make with those never blinking eyes? I couldn’t work it out. I swear she could read your mind, your life, the depths of your soul at one glance. Maybe she was stripping herself away, saying

„Here I am, this is me
I am yours and everything about me, everything you see…
If only you looked hard enough“

I never could

Our life was a pillow-fight. We’d stand there on the quilt, our hands clenched ready. Her with her milky teeth, so late for her age, and a Stanley knife in her hand. She sliced the tires on my bike and I couldn’t forgive her

She went blind at the age of five. We’d stand at the bedroom window and she’d get me to tell her what I saw. I’d describe the houses opposite, the little patch of grass next to the path, the gate with its rotten hinges forever wedged open that Dad was always going to fix. She’d stand there quiet for a moment. I thought she was trying to develop the images in her own head. And then she’d say:

„I can see little twinkly stars
Like Christmas tree lights in faraway windows
Rings of brightly coloured rocks
Floating around orange and mustard planets“

„I can see huge tiger-striped fishes
Chasing tiny blue and yellow dashes
All tails and fins and bubbles“

I’d look at the grey house opposite, and close the curtains

She burned down the house when she was ten. I was away camping with the scouts. The fireman said she’d been smoking in bed – the old story, I thought. The cat and our mum died in the flames, so Dad took us to stay with our aunt in the country. He went back to London to find us a new house. We never saw him again

On her thirteenth birthday she fell down the well in our aunt’s garden and broke her head. She’d been drinking heavily. On her recovery her sight returned. „A fluke of nature,“ everyone said. That’s when she said she’d never blink again. I would tell her when she stared at me, with her eyes wide and watery, that they reminded me of the well she fell into. She liked this, it made her laugh

She moved in with a gym teacher when she was fifteen, all muscles he was. He lost his job when it all came out, and couldn’t get another one, not in that kind of small town. Everybody knew every one else’s business. My sister would hold her head high, though. She said she was in love. They were together for five years, until one day he lost his temper. He hit over the back of the neck with his bull-worker. She lost the use of the right side of her body. He got three years and was out in fifteen months. We saw him a while later, he was coaching a non-league football team in a Cornwall seaside town

I don’t think he recognized her. My sister had put on a lot of weight from being in a chair all the time. She’d get me to stick pins and stub out cigarettes in her right hand. She’d laugh like mad because it didn’t hurt. Her left hand was pretty good though. We’d have arm wrestling matches, I’d have to use both arms and she’d still beat me

We buried her when she was 32. Me and my aunt, the vicar, and the man who dug the hole. She said she didn’t want to be cremated and wanted a cheap coffin so the worms could get to her quickly

She said she liked the idea of it, though, I thought it was because of what happened to the cat, and our mum