
Gerda Hammel empfängt ihre Kundschaft im Zweifel im Sitzen hinter ihrem kleinen Tresen. Sie darf das. Im Alter von 95 Jahren dürfte sie die älteste Einzelhändlerin in Hessen sein. Zumindest fällt Jochen Ruths niemand anderes ein, der so viele Jahre hinter sich hat und noch täglich im eigenen Laden steht. Und als Vorsitzender des Handelsverbands Hessen kennt sich der Modehändler aus Friedberg mit einer Filiale in der Kurstadt in seiner Branche so gut aus wie nur wenige andere sonst. Mit Blick auf den Modehandel gilt das ganz besonders.
Vor dem Strumpfkästchen genannten Laden steht der Rollator der Inhaberin. Gerda Hammel ist nicht mehr gut zu Fuß. Ihr Gleichgewichtssinn versagt mittlerweile seinen Dienst. So lehnen signalrote Krücken in Griffweite neben dem Tresen an der Wand. „Ohne kann ich nicht mehr laufen“, sagt sie ohne bedauernden Unterton. Ist eben so. Ihr Alter fordert seinen Tribut. Die meiste Zeit über kann sie drei Mal in der Woche auf eine Aushilfe bauen. In diesen Tagen ist ihre Mitarbeiterin aber krank. „Da mache ich es alleine – muss ja sein“, sagt Hammel.
„Ich freue mich, wenn ich das habe, was die Kunden möchten“
Wenn sie spricht, wird schnell klar: In Bad Nauheim geboren ist sie nicht, auch nicht andernorts in Hessen. In der Kurstadt lebt sie seit den Fünfzigerjahren. Ihr Zungenschlag verrät die Thüringerin. „Ich komme aus Rudolstadt. 1951 mussten wir flüchten“, sagt die Geschäftsfrau mit den zu einem kurzen Bob geschnittenen aschgrauen Haaren.
Über einer weißen Bluse trägt sie einen hellblauen Strickpulli und als Schutz gegen die Kälte draußen noch eine dick wattierte Weste in Beige. Ihre Augen schauen hinter den Gläsern einer auffällig gestalteten Brille hervor. Ein transparenter blauer Kunststoff prägt den oberen Teil des Gestells, ansonsten umfasst ein in Orange gefasstes graues Gittermuster die Gläser. „Ich weiß nicht, ob sie mich schöner macht, aber sie gefällt mir“, sagt Hammel lächelnd.

Wenn sie über das Verkaufen spricht, begeistert sich die Seniorin regelrecht. „Ich freue mich, wenn ich das habe, was die Kunden möchten“, sagt sie. Ob das Socken oder Kniestrümpfe sind, Lederhandschuhe oder halterlose Strümpfe, Strumpfhose oder Stützstrümpfe. Wobei Letzteres in einer zunehmend alternden Gesellschaft kein Nischenprodukt mehr ist, vor allem nicht in einer Kurstadt. Dazu bietet sie Mützen und Schals an.
„Der Laden ist mein Leben“
Gleichwohl geht es Gerda Hammel wie vielen anderen Modehändlern auch: Die Umsätze sahen schon einmal besser aus. „Sie sind gewaltig zurückgegangen. Die Leute kaufen zu viel im Internet“, sagt sie. Über einen Onlineshop verfügt sie nicht. Allerdings geht sie mit ihrem Smartphone ins Internet und ist auch mit E-Mails erreichbar. Wer bei ihr kauft, schätzt Beratung und Marken wie Wolford und Burberry, Falke und Elbeo. Lederhandschuhe führt sie von Roeckl. Billigware gibt es woanders. „Dafür halten die Sachen, die ich verkaufe, auch lange“, hebt Hammel hervor. Was sie anbietet, kauft sie demnach selbst ein.
Ohne die Arbeit wäre sie nicht so rege, wie sie ist. Nur zu Hause herumsitzen? Die Unternehmerin schüttelt den Kopf. „Da ich mein Leben lang gearbeitet habe, merke ich gar nicht, wie alt ich bin.“ Mit dem Rollator geht sie jeden Werktag einschließlich Samstag von ihrer Wohnung zum Laden an der Karlstraße. Ans Aufhören denkt sie nicht: „Der Laden ist mein Leben. Wenn mir jemand sagen würde, ich könne nicht mehr verkaufen, würde ich wohl nicht mehr lange leben, denke ich“, sagt sie mit fester Stimme.