Geräuschempfindlichkeit
Misophonie: Wenn Schmatzen oder knisternde Chipstüten Wut erzeugen
Unsere Autorin fühlt sich durch Alltagsgeräusche belästigt. „Misophonie“ nennt sich das Leiden, das sogar körperliche Auswirkungen haben kann und weit verbreitet ist.
Ich sitze im Zug. Muss mich auf meine Arbeit konzentrieren. Viele Reihen weiter vorn spielt ein Mann gedankenverloren mit seinem Kugelschreiber. Klick-Klick. Klick-Klick. Irgendwo hinter mir unterhalten sich zwei Frauen sektselig über ihr bevorstehendes Berlin-Wochenende. Jeder Satz so laut, als wäre ich Teil ihrer Unterhaltung. Jemand reißt eine Chipstüte auf. Das klingt für mich, als würde ein Schuss im Abteil abgefeuert. Jemand hört über Kopfhörer einen Song von Robbie Williams, mir bleibt nichts anderes übrig als innerlich mitzusummen.
Ich fühle mich durch Geräusche körperlich bedrängt
Jeder Satz, jedes Geräusch überfällt mich. Ich höre alles nicht nur, ich spüre es. Fühle mich körperlich bedrängt. Sofort ist es da, das Druckgefühl im Oberbauch. Ich atme tief ins Zwerchfell hinein, muss sehr an mich halten, um dem Mann den Kugelschreiber nicht aus der Hand zu reißen, den Frauen nicht den Mund zu verbieten. Doch ich bleibe sitzen, arbeite angestrengt weiter. Irgendwann darf ich aussteigen und kann aufatmen.
Solche Situationen habe ich jeden Tag. Irgendjemand kaut immer laut. Klopft mit dem Fingernagel auf den Tisch. Ein Gerät fiept, eine Uhr tickt. Kaum dass ein Geräusch ansetzt, muss ich aktiv gegen diese Aggression angehen, die mich sofort überfällt. Das kostet viel Kraft. Und manchmal bin ich befremdet über mich selbst, woher nur kommt dieses so starke Gefühl?
Seit ich mich erinnern kann, ist das so. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass es anderen im Alltag nicht so ergeht. Sie hören es gar nicht, wenn der Kollege am Schreibtisch nebendran einen Apfel isst, und wenn die Straßenbahn quietschend um die Ecke fährt, fühlt es sich für sie nicht an, als rammte ihnen jemand ein Messer in den Bauch. So schlimm kann ein Geräusch tatsächlich sein, ich übertreibe nicht.
Misophonie ist keine Krankheit – aber wir leiden trotzdem
Erst als mein Mann mir eines Tages einen Zeitungsartikel hinlegte mit den Worten: „Das bist du“, wurde mir klar, dass ich nicht allein komisch bin. Darin wurde eine Frau beschrieben, die unter Misophonie leidet. Mir fiel ein Stein vom Herzen: Das Kind hat einen Namen. Miso vom griechischen Wort misos für Hass und phoné für Geräusch. Wörtlich also „Hass auf Geräusche“. Als Krankheit wird diese verminderte Geräuschtoleranz nicht definiert, sie ist weder im ICD-10 noch im DSM-5 klassifiziert. Das beruhigt mich etwas. Aber wir Betroffenen leiden trotzdem.
Woher kommt dieses selektive Geräuschempfindlichkeits-Syndrom, wie es in den Neurowissenschaften auch bezeichnet wird? Was passiert da in meinem Kopf?
Ich fange etwas widerwillig an zu recherchieren – ich möchte mich eigentlich nicht als anders definieren, brauche keinen Stempel. Doch für meine Familie kann das hilfreich sein, denn so können sie mich besser verstehen, wenn meine Laune aufgrund eines stechenden Geräusches plötzlich kippt. Und vielleicht geht ihnen mein ständiges „Hör auf damit…“, „Mach sofort leiser…“, „Setz dich mit deinen Keksen weg …“ nicht ganz so auf die Nerven. Also suche ich nach Erklärungen und finde kaum welche.
Es gibt eine genetische Veranlagung zur Misophonie
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die Neurowissenschaften erstmals intensiver mit dem Thema beschäftigt. Es gibt eine Handvoll zumeist auf Befragungen von Betroffenen basierende Studien, in denen Geräuschklassen und Reaktionen darauf definiert werden. Auch die Schweregrade werden beschrieben. Ich finde mich darin wieder. Irgendwo im Mittelfeld, denn es gibt Menschen, die unter ihrer Misophonie so sehr leiden, dass sie Situationen meiden, in denen unangenehme Geräusche entstehen können. Das kann zu sozialer Isolation führen. So schlimm ist es bei mir nicht, obwohl – ich gehe auch lieber in Kinos, in denen kein Popcorn verkauft wird, so ist schon mal eine krachende Geräuschquelle ausgeschlossen.
Das Syndrom kommt häufiger vor, als man denkt. Ich aber habe noch nie persönlich mit jemandem gesprochen, der beim Kaugummikauen seines Gegenübers aus der Haut fahren könnte. Vielleicht sprechen manche Betroffene nicht offen darüber, denn Studien lassen vermuten, dass die Misophonie Hand in Hand mit anderen neuropsychiatrischen Störungen geht: Das können Angststörungen sein, Zwangsstörungen, und in einer Studie konnten Überschneidungen mit Entwicklungsstörungen wie Autismus festgestellt werden. Einer neueren Studie zufolge soll es eine genetische Veranlagung zur Misophonie geben.
Doch warum das so ist, darauf hat die Forschung noch keine Antwort. Was da überhaupt in meinem Kopf passiert, warum mein Gehirn wichtig von unwichtig nicht unterscheidet, warum die Wahrnehmung von Geräuschen so stark an zumeist negative Gefühle gekoppelt ist, ist auch nicht abschließend geklärt.
Ich wüsste gern, wie andere Menschen die Welt hören, stelle mir vor, dass sie nur das hören, was sie hören wollen und nicht wie ich alles hören müssen und ständig eine Kakophonie im Kopf haben. Vielleicht gibt es schon bald ein Hörgerät, das genau diesen Unterschied machen kann. Ich kauf’s sofort.