
Die schwarz-rote Regierung hält in ihrem Koalitionsvertrag eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro für möglich. Doch davon würden viele Familien mit geringem Einkommen nur wenig haben, schreibt der Ökonom Georg Cremer. Er
ist ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes und lehrt
als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der
Universität Freiburg.
Koalitionsverträge
sind eine Literaturgattung besonderer Art. Ihre Kompromisslyrik dient dazu, auch
dort Einigung vorzutäuschen, wo es keine gibt. Das trifft auch auf die Passagen
zum Mindestlohn zu. Union und SPD beschwören, an einer „starken und
unabhängigen Mindestlohnkommission“ festhalten zu wollen, und zugleich geben
sie einen Richtwert von 15 Euro vor, der bis 2026 erreichbar sei, wenn sich die
Kommission „im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als
auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten“ orientiere.
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas hat bereits angekündigt, die 15 Euro
gesetzlich vorzugeben, sollte die Kommission in ihrem Beschluss zu stark von
der Vorgabe abweichen. Bei 14,95 Euro werde „es wegen der fehlenden fünf Cent
keinen politischen Eingriff geben“. Das klingt nicht nach Respekt gegenüber der
Entscheidungsautonomie der Kommission.
Nun hat die SPD
eine gewisse Begabung, markige Forderungen zu erheben, mit der sie ihre eigenen
politischen Erfolge abwertet, weil das, was sie bisher erreicht hat, dann so klein
und mickrig erscheint. Dabei war ihre Mindestlohnpolitik ein Erfolg. Sie hatte 2014
eine allgemeine Lohnuntergrenze der Union abgerungen. Der Anfangswert war mit
8,50 Euro nicht zu hoch angesetzt, sodass es nicht zu dem von vielen Ökonomen
befürchteten großen Verlust von Arbeitskräften gekommen ist.
Der Mindestlohn
ist eine wesentliche Ursache für die Trendwende bei den Bruttostundenlöhnen am
unteren Rand der Lohnskala. In der Zeit rasant steigender
Massenarbeitslosigkeit, zwischen 1995 und 2005, waren die kaufkraftbereinigten
Stundenlöhne des untersten Dezils, das heißt, der am schlechtesten verdienenden
zehn Prozent der Beschäftigten, im freien Fall. Sie sanken um, sage und
schreibe, 25 Prozent. Und zwischen 2005 und 2013, als infolge der
Arbeitsmarktpolitik von Gerhard Schröder die Arbeitslosigkeit stark zurückging, gab es für die, die unten
standen, kaum Reallohngewinne. Wer aus der Langzeitarbeitslosigkeit hinauskam,
verbesserte seine Situation trotzdem.
Dann aber kam der
Umschwung. Ab 2013 stiegen auch die Stundenlöhne des untersten Dezils stark an.
Die Verhandlungsposition von Beschäftigten verbesserte sich angesichts eines
zunehmenden Arbeitsmangels, die Gewerkschaften änderten ihre Lohnpolitik und
der Mindestlohn entfaltete Wirkung. 2022 – so weit reichen die Daten des
Sozio-oekonomischen Panels– ist der Reallohn des
untersten Dezils 18 Prozent höher als 1995; ähnlich hoch sind im Vergleich zu
1995 die relativen Zuwächse der anderen Dezile. Vergleiche mit dem Jahr 2006, dem
absoluten Tiefpunkt der untersten Reallöhne seit der Wiedervereinigung, zeigen die Entwicklung noch deutlicher. Der reale Stundenlohn des untersten
Dezils stieg um 60 Prozent. Die Lohnschere, die sich nach 1995 weit öffnete,
hat sich also wieder geschlossen.
Wenn etwas so erfolgreich ist, warum nicht mehr davon? Doch Vorsicht, man kann auch des Guten zu
viel tun. Daraus, dass der Mindestlohn bisher keine Verwerfungen auf dem
Arbeitsmarkt verursacht hat, darf man nicht schließen, jedes Mindestlohnniveau
wäre verkraftbar. Der Wirtschaftsnobelpreisträger David Card äußerte sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf
die Frage, ob er es für klug hielte, wie in einer unverbindlichen EU-Richtlinie
empfohlen, den Mindestlohn auf 60 Prozent des mittleren Lohns und damit auf rund 15
Euro festzulegen, folgendermaßen: „So was im Gesetz festzuschreiben, ist immer eine schlechte
Idee. Man weiß nie, wie sich die Dinge entwickeln. Falls der Arbeitsmarkt in
Not gerät, möchte man den Mindestlohn vielleicht für ein paar Jahre stagnieren
lassen, bis die Lage sich wieder entspannt hat. Daher wäre ich hier sehr
vorsichtig.“
Card ist alles
andere als ein Gegner des Mindestlohns. Die Nobelwürde erhielt er für seine empirischen
Arbeiten, die ein besseres Verständnis der Arbeitsmärkte ermöglicht haben. Er
erschütterte den Glaubenssatz der wirtschaftswissenschaftlichen Orthodoxie,
dass Mindestlöhne, wenn sie wirken, so gut wie immer schädlich sein müssen.
Aber er leugnet keineswegs, dass eine schlechte Mindestlohnpolitik
Arbeitsplätze vernichten kann.