Migration und Arbeitsmarkt: Wichtige Arbeitskräfte gehen wieder – „Deutschland lädt aus, statt einzuladen“

Qualifizierte Arbeitnehmer aus dem Ausland sind essenziell für die deutsche Wirtschaft. Doch die Abwanderung aus dieser Gruppe ist gewaltig. Die Gründe dafür sind zahlreich. Experten werfen der Politik vor, sich nur um Anwerbung zu kümmern – aber nicht darum, die Menschen im Land zu halten.

Nach neun Jahren in Berlin hatte Adam Kaminski genug. Der 27-jährige Pole zog aus seiner Wohnung aus, lud seine Möbel in einen Transporter und fuhr zurück in seine Heimat im Westen Polens. „Damals dachte ich, in Deutschland warte auf mich die bessere Welt, heute weiß ich, dass das nicht stimmt“, berichtet der Mediziner.

Kaminski, der eigentlich anders heißt, studierte in Berlin und arbeitete zuletzt als Assistenzarzt in der Unfallchirurgie. Er verdiente gutes Geld, war dankbar für die Möglichkeiten, die Deutschland ihm eröffnete. Doch eine Zukunft konnte er sich hier nicht vorstellen. „Es fiel mir schwer, mich mit Deutschen anzufreunden, ich habe mich hier nie zu Hause gefühlt“, sagt er. Auch sei die Lebensqualität ernüchternd. „Die Verwaltung ist rückständig, ständig fallen Züge aus, und überall liegt Müll.“

So wie Kaminski geht es vielen Zuwanderern. Laut Ausländerzentralregister zogen im vergangenen Jahr 1,6 Millionen ausländische Staatsbürger nach Deutschland, zugleich haben rund 805.000 das Land aber wieder verlassen. Eine hohe Abwanderungsquote ist in einem Einwanderungsland grundsätzlich normal, kann aber problematisch werden, wenn ausgerechnet dringend benötigte Fachkräfte dem Land den Rücken kehren.

Wie viele es sind, wird nicht erfasst. Aber einige Statistiken sprechen Bände: So kamen zuletzt allein 43 Prozent der Fortgezogenen aus der Europäischen Union. „Wir wissen, dass etwa 65 bis 70 Prozent der EU-Bürger bei uns als Fachkräfte arbeiten und der Rest in Helferberufen, etwa in der Gastronomie, Verkehr und Logistik oder dem Baugewerbe“, sagt Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). „Auf beide Gruppen ist der deutsche Arbeitsmarkt stark angewiesen.“

Auffällig ist, dass die Einwanderer oft nach nur wenigen Jahren aus Deutschland wieder wegziehen. Nach Angaben des Ausländerzentralregisters blieben 39 Prozent weniger als zwölf Monate im Land. Darunter fielen allerdings auch Saisonarbeiter, Au-pairs oder Besucher von Familienangehörigen, erklärt Brücker. Knapp ein Drittel der Fortgezogenen lebt zwischen einem und vier Jahren in Deutschland, etwa jeder Sechste zwischen vier und acht Jahren.

„Die Politik konzentriert sich zu sehr darauf, migrationswillige Arbeitskräfte im Herkunftsland aufzuspüren und von Deutschland zu überzeugen“, sagt Bernhard Boockmann, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität Tübingen. „Sie sollte sich auch darum kümmern, dass die Fachkräfte, die schon bei uns sind, langfristig bleiben. Das wäre der deutlich einfachere Hebel.“ Im zweiten Quartal dieses Jahres waren in Deutschland rund 1,3 Millionen Stellen unbesetzt.

Doch warum sind die Menschen in Deutschland unzufrieden?

„Schwerwiegende Folgen für die Volkswirtschaft“

Boockmann und sein Team haben im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit (BA) 2000 abgewanderte Fachkräfte zu ihren Rückkehrmotiven befragt. Die Erhebung ist nicht repräsentativ, gibt aber grundsätzliche Einblicke. So hat ein Teil der Befragten das Land aus beruflichen Gründen verlassen, andere aus aufenthaltsrechtlichen Gründen, häufig wurde auch fehlende soziale Integration genannt. „Er oder sie fühlte sich in Deutschland nicht wohl, wurde diskriminiert oder hat keinen Anschluss gefunden“, heißt es in der Studie. Mehr als die Hälfte der Befragten hatte zum Zeitpunkt der Ausreise bereits einen Arbeitsplatz im Ziel- oder Herkunftsland in Aussicht. „Viele der Befragten sind kürzer in Deutschland geblieben als geplant“, berichtet Boockmann.

Hinweise über die Gründe, warum es Fachkräften in Deutschland nicht gefällt, gibt auch die jährliche Expat Insider-Studie des Netzwerkes InterNations. Auf Basis von 12.000 befragten Expats landet Deutschland im Gesamtranking der attraktivsten Länder nur auf Rang 50 von insgesamt 53. Häufig genannte Probleme: mangelnde Digitalisierung, starre Bürokratie, angespannter Wohnungsmarkt. Zudem gehörten die Deutschen zu den unfreundlichsten Bevölkerungen weltweit, heißt es.

Für den Wirtschaftsstandort Deutschland wird die sinkende Attraktivität zum Problem. „Das im vergangenen Jahrzehnt starke Wachstum ist zum erheblichen Teil auf Migration zurückzuführen“, erklärt Arbeitsmarktforscher Brücker. „Wenn nun das Wachstum einbricht und gleichzeitig weniger Fachkräfte ins Land kommen oder mehr wieder gehen, führt das im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel zu wirtschaftlicher Stagnation mit schwerwiegenden Folgen für die Volkswirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme.“

Auch deutsche Unternehmen äußern sich besorgt über die Entwicklung. „Die deutsche Wirtschaft braucht weiterhin an vielen Stellen Fachkräfte – trotz wirtschaftlicher Schwäche“, sagt Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). „Umso wichtiger ist es, dass die qualifizierten Zuwanderer, die bereits in Deutschland sind, auch gerne bleiben wollen.“ Dafür müsse der Standort insgesamt attraktiver werden, nachteilig sei etwa die hohe Steuer- und Abgabenlast.

Auch Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), mahnt: „Deutschland muss ausländischen Fachkräften eine Bleibeperspektive bieten und eine Willkommenskultur etablieren, die zum Hierbleiben einlädt.“ Der Familiennachzug sei zu langsam und dauere Monate, teils Jahre. Terminvergaben der Ausländerbehörden brauchten „erschreckend“ lange. Beim Wechsel ihrer Aufenthaltstitel würden Fachkräfte mit Bürokratie zugeschüttet. „Deutschland lädt aus, statt einzuladen“, sagt Kampeter.

Noch ein Faktor: Der „rechte Rand“

Kai Mütze, Kommissionsmitglied Arbeit und Soziales des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW), sieht einen weiteren Grund: „Unternehmen berichten uns, dass ausländischen Fachkräfte Deutschland wieder verlassen und dabei auf das Erstarken des rechten Randes verweisen.“

Besonders dramatisch ist der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Bisher ist unklar, wie die Versorgung der Patienten flächendeckend sichergestellt werden soll, wenn die geburtenstarke Generation der Babyboomer in Rente geht. Umso schmerzhafter ist es, wenn Pflegekräfte etwa von den Philippinen, aus Vietnam oder Mexiko, die oft für mehrere Tausend Euro von Krankenhäusern angeworben wurden, Deutschland wieder verlassen. Isabell Halletz, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), erklärt, es gebe zwar keine Statistik, die erfasse, wie viele Pflegepersonen wieder gingen. „Aus den Berichten und Erfahrungen der Mitglieder lässt sich jedoch ableiten, dass die Quote zwischen zehn und 30 Prozent liegt“, berichtet Halletz. Zu den Gründen zählten familiäre Notfälle, Heimweh oder die langwierige Anerkennung ausländischer Abschlüsse.

Der junge Assistenzarzt Kaminski lebt seit Juni wieder in seiner Heimatstadt, hat dort eine Wohnung gekauft. Polen hat sich in seiner Abwesenheit rasant entwickelt, die Wirtschaft boomt, die Gehälter steigen. Als Chirurg, sagt er, werde er sogar etwas mehr als in der Bundesrepublik verdienen, weil sich viele Polen privat behandeln ließen. „Deutschland ist attraktiv für Menschen, die nichts haben“, resümiert er. „Diejenigen mit Perspektiven können auch woanders hin.“

Politikredakteurin Kaja Klapsa ist bei WELT zuständig für die Berichterstattung über das Bundesgesundheitsministerium und das Auswärtige Amt.