Mentaltrainer über Bayerns Megatalent Lennart Karl: „Michael Ballack ist Gold wert“

Andreas Bosch aus Leipzig ist seit zwölf Jahren Mentaltrainer – er arbeitet unter anderem eng mit Sportverbänden zusammen. Der 45-Jährige ist zudem Erster Vorsitzender des Deutschen Bundesverbandes Sportmentaltraining.

AZ: Herr Bosch, Lennart Karl brilliert mit gerade einmal 17 Jahren im Starensemble des FC Bayern, er hat sich sogar in die Stammelf gespielt. Wie kann er mental damit umgehen, dass die Erwartungshaltung nun fast zwangsläufig steigen wird?
ANDREAS BOSCH: Lennart Karl macht offensichtlich viel richtig momentan. Es ist nicht nur sein Talent, sondern auch, wie er damit umgeht. Man spürt ja, mit welcher Leichtigkeit er in diese Spiele geht, als wäre das selbstverständlich, als würde er das schon viele Jahre machen. Diese Leichtigkeit entsteht, wenn ein Spieler den Fokus auf seine Entwicklung legt und nicht auf das, was andere erwarten. Im Spitzenfußball steht natürlich das Ergebnis im Mittelpunkt. Aus Sicht des Mentaltrainings ist aber der tägliche Fortschritt entscheidend. Wenn ein Spieler jeden Tag etwas besser ist als gestern, wächst Stabilität von innen heraus.

Wie gelingt das?
Da ist auch Karls Umfeld beim FC Bayern gefragt und sein privates Umfeld. Es ist extrem wichtig, dass sie ihn nach wie vor als Menschen sehen und nicht als Marke, als Supertalent. Wir sehen es ja auch bei Said El Mala vom 1. FC Köln, der mit 19 Jahren ebenfalls sehr im Fokus steht. Man sollte keinen Druck auf diese jungen Spieler ausüben, sondern sie mit einem Gefühl von Leichtigkeit spielen lassen.

Michael Ballack ist für Lennart Karl als Mentor „extrem wertvoll“

Ist diese Unbekümmertheit von Karl und El Mala gerade ihre größte Stärke?
Absolut. Beide gehen befreit auf den Platz. Aber es kann sich auch ganz schnell ändern im Fußball, es läuft nicht immer nur nach oben. Und da ist es umso wichtiger, jemanden zu haben, der sie begleitet und unterstützt. Wir hoffen jetzt einfach mal, dass es so gut weitergeht für Karl und El Mala und sie vielleicht bei der WM dabei sind.

Inwiefern hilft es Karl, dass sein Berater Michael Ballack den Druck als Fußballstar kennt, jede Situation schon erlebt hat?
Das ist Gold wert für Karl. Ein Mentor wie Ballack bringt etwas mit, das kein Lehrbuch ersetzen kann: Erfahrung, ähnliche Erlebnisse. Ballack hat in der Champions League gespielt, bei Weltmeisterschaften, über Jahre auf dem höchsten Niveau. Junge Spieler orientieren sich an solchen Figuren. Wobei man natürlich sagen muss, dass Michael Ballack kein qualifizierter Mentaltrainer ist. Aber als Mentor ist er extrem wertvoll.

Was nach Spielen in der Allianz Arena auffällt, ist, dass Karl die Medien nicht scheut, schon mit 17 Jahren selbstbewusst Interviews gibt, was nicht die Regel ist. Stärkt das seine Persönlichkeit?
Definitiv. Es gehört ja auch zum Profigeschäft dazu, die Klubs bereiten ihre Spieler mit Medientraining auf diese Situationen vor. Und wenn man wie Karl gut vorbereitet ist, sollte es kein Problem darstellen. Klar: Wir haben heute nicht mehr die Mario-Basler-Zeiten, in denen die Spieler alles rausgehauen haben, was sie wollten. Das war für die Fans und Medien sympathisch, allerdings wurden Basler und Co. dadurch auch immer wieder durch den Kakao gezogen. Man muss einen Mittelweg finden. Wenn die Interviews zu weichgespült sind, kommt ebenfalls Kritik auf.

WM-Teilnahme von Lennart Karl? „Ein Turnier verlangt Stabilität und klare Routine“

Gehen wir jetzt mal davon aus, dass es Karl in den deutschen WM-Kader schafft. Wie bereitet man einen so jungen Spieler auf dieses Mega-Turnier unter dem Brennglas der Weltöffentlichkeit vor?
Am besten mit einem guten Mentaltrainer (lacht). Nein, im Ernst: Man trainiert auf jeden Fall nicht nur den Körper für die Weltmeisterschaft, sondern auch das Nervensystem. Das ist ganz klar meine Empfehlung. Ein Turnier verlangt Stabilität und klare Routinen. Dazu gehören Abläufe, die Sicherheit geben. Der Spieler weiß, wie er seine Spannung reguliert, wie er nach Spielen runterfährt und wie er sich auf die nächste Partie vorbereitet. Diese innere Struktur gibt Halt.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Viele Spieler nutzen Musik vor Spielen, andere Visualisierung. Wir arbeiten mit sogenannten Szenarien. Der Spieler erlebt die Turnierwelt mental schon im Vorfeld. Im Detail setzen sich Spieler dabei eine VR-Brille (Virtual Reality, Anmerkung der Redaktion) auf und gehen schon mal durch den Spielertunnel ins volle Stadion. Je vertrauter das Turniererlebnis mental ist, desto stabiler ist der Spieler. Ein weiterer Ansatz ist, dass man den Fokus nicht so sehr nur auf diese eine Weltmeisterschaft legt. Es gibt auch ein Leben nach der WM 2026 – und für Karl bestimmt noch weitere Weltmeisterschaften. Das nimmt Druck.

Nach einer Verletzung: „Die größte Hürde ist der Kopf“

Für die deutsche Mannschaft lief es bei den letzten Turnieren nicht gut, bei Weltmeisterschaften kam zweimal in Folge das Aus in der Vorrunde. Wie kann Bundestrainer Julian Nagelsmann sein Team mental einstellen?
Deutschland braucht ein neues Selbstbild. Der Gedanke an Wiedergutmachung hilft nicht. Der Blick nach vorn ist wichtiger als die Vergangenheit. Klare Rollen im Team helfen dabei sehr. Erfahrene Spieler geben Stabilität, junge Spieler bringen Energie und Tempo. Entscheidend ist, wie schnell die Mannschaft Rückschläge verarbeitet. Eine Weltmeisterschaft gewinnt man nicht am ersten Spieltag, sondern durch die Fähigkeit, Niederlagen oder schwierige Phasen schneller zu verarbeiten als der Gegner.

Kommen wir zum FC Bayern, wo Alphonso Davies und Jamal Musiala lange Verletzungspausen hinter sich haben. Wie kann man ihnen die Angst nehmen, sich wieder zu verletzen?
Die größte Herausforderung nach einer Verletzung ist selten der Körper. Die größte Hürde ist der Kopf. Die Angst vor einer erneuten Verletzung ist normal. Mit mentalem Training kann man diese Angst bearbeiten. Wir arbeiten mit Fantasiereisen, in denen sich der Spieler zunächst vorstellt, wie er Zweikämpfe erfolgreich löst. Das schreibt er dann auf. Im Anschluss liest er es ab und wir nehmen es als Audiodatei auf. Danach ergänzen wir es mit Stadiongeräusche, damit es so realistisch wie möglich ist. Und das hört sich der Spieler dann immer wieder an, sodass es in seinem Nervensystem gefestigt wird. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Körperwahrnehmung. Wer seinen Körper klar spürt, vertraut ihm auch. Das kann man trainieren, zum Beispiel mit Gleichgewichtsübungen oder Wahrnehmung durch Gerüche oder Tastsinn. Mit einer besseren Körperwahrnehmung hat man ein stärkeres Selbstvertrauen.

Alphonso Davies und Jamal Musiala verpassten große Teile des Jahres 2025 verletzungsbedingt.
Alphonso Davies und Jamal Musiala verpassten große Teile des Jahres 2025 verletzungsbedingt.
© IMAGO/IPA Photo
Alphonso Davies und Jamal Musiala verpassten große Teile des Jahres 2025 verletzungsbedingt.

von IMAGO/IPA Photo

„}“>

Spannend. Sie sagen auch, dass man Elfmeterschießen trainieren kann. Aber lässt sich diese Atmosphäre bei einem wichtigen WM-Spiel wirklich simulieren?
Elfmeterschießen ist zu 80 Prozent Kopfsache. Also es ist absolut trainierbar. Und dazu gehört ein Aspekt, der oft vergessen wird. Das Gefühl von Konsequenz. Im Spiel hat jeder Fehlschuss eine direkte Folge und genau dieses Gefühl muss im Training integriert werden. Das kann eine Zusatzaufgabe sein oder ein kurzer Lauf. Wichtig ist nur, dass der Spieler im Training spürt, dass etwas auf dem Spiel steht. Zusätzlich kann man diesen Stress simulieren mit Zeitdruck, Störgeräuschen, Kameras. Indem man zum Beispiel auch am gleichen Ort, also nicht am Trainingsplatz, sondern, wenn man die Möglichkeit hat, im Stadion Elfmeter trainiert, in Wettkampfkleidung. Also so realistisch wie möglich, auch zur gleichen Uhrzeit wie beim Spiel, am besten nach 120 Minuten Belastung. Dann kommt es dem Empfinden bei einem Spiel sehr nahe. Wenn ein Spieler dieses Druckgefühl im Training kennt, bleibt er im Spiel ruhiger und klarer.