Menschen mit niedrigem Einkommen leiden häufiger unter Depressionen, – Gesundheit

Die Behauptung, wonach jede Krise eine Chance ist, klingt zunächst vielversprechend. Vermutlich gilt dieses Motto aber besonders für jene, die genügend Chancen bekommen und sie auch nutzen können. Für andere bedeutet eine Krise womöglich, dass sich ihre bisherigen Krisen noch verschärfen. So lassen sich zumindest aktuelle Daten interpretieren, die zwar insgesamt einen Anstieg der depressiven Symptomatik in der erwachsenen deutschen Bevölkerung während der zurückliegenden Krisenjahre belegen. Allerdings ist die Belastung durch depressive Symptome umso höher, je niedriger Bildungsstand und Einkommen ausfallen. Zudem hat sich der Studie zufolge die gesundheitliche Ungleichheit in den vergangenen Jahren noch weiter verstärkt.

Forscher des Robert-Koch Instituts (RKI) und der Charité in Berlin zeichnen im Deutschen Ärzteblatt anhand repräsentativer Befragungen aus den Jahren 2019 bis 2024 die Trends der psychischen Gesundheit in Deutschland nach. Dazu wurden Daten von 94 000 zufällig ausgewählten Personen genutzt, von denen monatlich 10 00 bis 40 00 zu ihrem körperlichen und seelischen Befinden befragt wurden. Dabei wurde auch nach „depressiver Stimmung“ und „Interessenverlust“ innerhalb der vergangenen zwei Wochen gefragt, zwei Kernsymptomen einer Depression.

Generell wiesen Menschen mit niedrigerem sozioökonomischen Status mehr depressive Symptome auf. Während der Pandemie nahm die Belastung in den Jahren 2020 und 2021 zwar in allen sozioökonomischen Gruppen gleichermaßen zu, ab 2022 war der Anstieg in den niedrigeren Statusgruppen jedoch besonders ausgeprägt. In der niedrigen Einkommensgruppe stieg das Vorkommen depressiver Symptome zwischen 2019 und 2024 von 16 auf 32,9 Prozent. In der hohen Einkommensgruppe lag der Anteil 2019 bei sechs Prozent, 2022 bei 11,7 Prozent. 2024 war er wieder auf 8,4 Prozent zurückgegangen.

Ähnliche Trends sind in vielen westlichen Ländern zu finden

„Der Bevölkerungsanteil mit auffälliger Belastung durch depressive Symptome war in niedrigen Bildungs- und Einkommensgruppen durchgängig am höchsten“, schreiben die Autoren um Christina Kersjes. „Der Anteil stieg insbesondere ab 2022 in den niedrigeren Bildungs- und Einkommensgruppen deutlich stärker als in den jeweils höheren sozioökonomischen Gruppen.“ Somit vergrößerte sich die Lücke zwischen höheren und niedrigeren Statusgruppen weiter.

Bereits ohne eine „Überdosis Weltgeschehen“, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die Ballung multipler Krisen in jüngster Zeit genannt hat, sind niedrige Einkommensschichten gesundheitlich benachteiligt. Das gilt für fast alle Erkrankungen. Auch das Risiko, früher zu sterben, ist deutlich erhöht. „So liegen günstigere Wohnungen häufig an stärker befahrenen Straßen, was schädliche Lärm- und Feinstaubbelastung bedeutet“, erklärte Verina Wild vom Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit in der Gesellschaft der Uni Augsburg in einem Statement für das Science Media Center (SMC). „Sie liegen oft weiter weg von Parks und öffentlichen Schwimmbädern, sodass die Angebote weniger genutzt werden können.“ Der Stress bei der Arbeit sei höher, weil mehr zuarbeitende Tätigkeiten in einem lauten und oft körperlich anstrengenden Umfeld geleistet würden und es weniger Gestaltungsfreiheit gebe. Diskriminierungserfahrungen seien ebenfalls häufiger, wenn man zu benachteiligten Gruppen gehört, was Stressreaktionen im Körper auslöst. Damit sei die Anfälligkeit für viele Erkrankungen erhöht, psychische Erkrankungen eingeschlossen.

Zwar waren zu Beginn der Pandemie alle Gruppen ähnlich belastet, doch ab 2022 verstärkten Preissteigerungen für Energie und Nahrungsmittel infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, Arbeitsplatzverluste und finanzielle Einbußen vor allem den Stress für einkommensschwache Haushalte. „Kommt ein kollektiver oder individueller Stressor hinzu, ist es nicht verwunderlich, dass es zu mehr Erkrankungen kommt“, so Wild. „Leider sind diese langfristigen Entwicklungen depressiver Symptome bei den unterschiedlichen Gruppen deshalb nicht überraschend. Das haben Erfahrungen aus früheren Krisen und Epidemien vermuten lassen.“ Das Risiko steige in Krisenzeiten, verstärkt Schaden zu nehmen – ob körperlich, psychisch oder sozial.

„Während der Pandemie und später während der Zeit starker Inflation sind die Belastungen häufiger geworden.“

„Die jüngeren Entwicklungen gehen aus meiner Sicht auffällig über übliche Schwankungen hinaus“, sagte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie dem SMC. „Im Langzeitbild sind die Belastungen höher als in allen früheren Messungen – außer bei Personen mit hoher Bildung und Einkommen.“ Ähnliche Trends wachsender Ungleichheit seien in vielen westlichen Ländern zu finden.

„Schulden, Existenzängste und Geldmangel sind Risikofaktoren für Depressionen oder Angststörungen“, sagte Nico Dragano, Medizinischer Soziologe am Uniklinikum Düsseldorf dem SMC. „Während der Pandemie und später während der Zeit starker Inflation sind die Belastungen häufiger geworden.“ Die Auswirkungen könnten kaum unterschätzt werden. „Soziale Ungleichheit ist für die Gesellschaft als Ganzes schlecht, denn sie verursacht nicht nur unnötiges Leid, sondern auch enorme Kosten im Gesundheitssystem und anderen Bereichen – etwa bei den Arbeitsunfähigkeitstagen“, so Dragano.

„Es geht um Belastungen auf der einen Seite und Ressourcen auf der anderen Seite. Beides ist ungleich verteilt“, sagt Zeeb, der auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Public Health ist. Zudem sei der Zugang zu therapeutischer Unterstützung für benachteiligte Menschen schwieriger und wird seltener von ihnen angegangen.

Lösungen sind bekannt, doch die Eigenverantwortung kommt an Grenzen, wenn gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen nicht verbessert werden. So bestünde weiterhin Mangel in Bereichen wie gesunde Arbeitsplätze, faires Einkommen, Luftqualität, guter und günstiger öffentlicher Nahverkehr, gute Sozial- und Pflegesysteme, sowie psychotherapeutische Versorgung.

Verhältnisprävention zu betreiben zum Beispiel durch bessere Arbeitsbedingungen, niedrigschwelligere Therapieangebote oder bessere Sozialpolitik, „ist leider weniger ‚sexy‘ und Effekte sind auch weniger schnell sichtbar“, so Wild, aber sie müsse unbedingt ausgebaut werden, um gesundheitliche Ungleichheit zu verringern. Insgesamt sei Deutschland nicht gut genug vorbereitet, die vielschichtigen bio-psycho-sozialen Vulnerabilitäten, die in Krisenzeiten da sind oder entstehen, umfassend in den Blick zu nehmen. „Die steigende Ungleichheit hat verheerende Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft“, warnt Wild. „Für alle Bereiche des sozialen und privaten Lebens sind wir davon abhängig, dass wir gesamtgesellschaftlich eine stabile psychische Gesundheit haben.“

Auch Hajo Zeeb befürchtet „beunruhigende Entwicklungen, die sich auf das Gesundheitssystem, aber auch auf viele andere Bereiche auswirken“. Das gelte für die Arbeitsfähigkeit, für die allgemeine Gesundheit und die gesellschaftliche Teilhabe. „Im schlechtesten Fall werden Menschen weiter abgehängt, die Suizidalität steigt und der gesellschaftliche Zusammenhalt wird noch geringer.“