Das ist bedenklich. Nach Fiebersaft und Antibiotika sind sterile Kochsalzlösungen Mangelware. Sie werden täglich millionenfach in Kliniken eingesetzt – um Wunden zu spülen oder um den Kreislauf zu stabilisieren. Ursache des Engpasses ist nicht nur die globale Lieferkette.
In den vergangenen Tagen gab es dazu immer mehr Meldungen, jetzt beschäftigt es den nordrhein-westfälischen Landtag in einer Aktuellen Stunde: Nach Angaben des Apothekerverbands Nordrhein und der Krankenhausgesellschaft des Bundeslandes werden „Ringer-Lösungen“ knapp. Matthias Blum, Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, bestätigt gegenüber der DPA: „Seit Juni haben wir mehrfach darauf aufmerksam gemacht und davor gewarnt, dass Operationen verschoben werden müssen.“
Die Lösungen werden in Krankenhäusern für Infusionen verwendet oder dazu, Wunden während Eingriffen zu reinigen. Sie werden täglich in Krankenhäusern eingesetzt, millionenfach, ohne sie ist moderne Medizin nicht möglich. Und dabei sind die Inhaltsstoffe denkbar simpel, Natriumchlorid und Wasser, in einer Konzentration, die dem des Bluts entspricht.
Was ist da los? Ist jetzt Kochsalz nicht mehr lieferbar?
Das Problem liegt nicht an den Inhaltsstoffen, die sind nach wie vor zu bekommen, sondern daran, dass die Lösungen zuverlässig keimfrei sein müssen, damit die Behandelten keine Infektionen davontragen. Und für sterile Lösungen gibt es in Deutschland neue Vorschriften, die offenbar die Hersteller vollkommen überfordern.
Das haben Recherchen des Online-Fachportals Doccheck ergeben, das beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) nachfragte. „Die Lieferprobleme haben ihre Ursache in der Verschärfung der Anforderungen an die Sterilherstellung von Arzneimitteln“, erklärte ein Sprecher. Durch die Verschärfung gäbe es weniger Hersteller und Abfüller. „Viele der bisherigen Auftragsunternehmen aus Kostengründen die notwendigen Umgestaltungsmaßnahmen nicht umsetzen.“
Fataler Perfektionismus
Ursache sei der Good Manufacturing Practice (GMP)-Leitfaden der EU, der seit dem 25. August 2023 gilt und die Herstellung steriler und aseptischer Produkte regelt. Darin wird festgelegt, dass rund um die Tropf- und Spüllösungen nun viel mehr Aufwand betrieben werden muss, etwa Filter nach jeder Produktionscharge austauschen. Eine Vorgabe, die die Produktionskosten in die Höhe treibt, sogar dazu führt, dass bestehende Anlagen nicht mehr weiter betrieben werden können – und entsprechend viele Akteure dieses Geschäft aufgeben lässt.
So gut die Vorschriften gemeint sind, so überflüssig sind sie: Eigentlich waren die Herstellungsverfahren bewährt und sicher. Bisher wurde kein grundsätzliches Problem mit Keimen in den Kochsalz-Lösungen bekannt.
Der BPI kritisiert die Regeln offenbar schon länger, seit August 2023. Die Kochsalz-Krise begann in den Kliniken, und hat auch mit dem Kostendruck dort zu tun. „Bei Ausschreibungen ist es in der Vergangenheit zu einem massiven Preisverfall bei Produkten gekommen“, sagt der Verband. Das hätten Hersteller von Kochsalzlösungen kompensiert, indem sie auf sogenannte Lohnhersteller außerhalb Europas auswichen, Betriebe also, die ihnen billiger zuarbeiteten. „Da sie sich weigern, die verschärften Anforderungen zu erfüllen, stehen nicht mehr genügend Anbieter auf dem Markt zur Verfügung – mit dramatischen Konsequenzen.“
Bedrohlich sei die Lage vor allem bei Blutplasma, das auch nach den neuen Regeln gefertigt werden muss und zum Beispiel bei Notfällen mit Blutverlust Leben rettet. Nach Daten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte gibt es aktuell bei knapp 500 Medikamenten Lieferschwierigkeiten. In den vergangenen Jahren haben solche Mängel schon oft Schlagzeilen verursacht. Betroffen waren vor allem Schmerzmittel und Antibiotika, und auch Fiebersäfte für Kinder.
Recherchen von Doccheck bei Apotheken ergaben beim Kochsalz, dass zumindest zwei Firmen, B. Braun und das Serumwerk Bernburg, Kunden noch mit Lösungen beliefern können. „Allerdings ausschließlich ihre Bestandskunden“, schreibt die Plattform. Kurzfristig könnten nun nur Apotheken einspringen und die Lösungen in Handarbeit herstellen – sofern sie die dazu nötigen keimfreien Reinräume besitzen.
In Nordrhein-Westfalen versucht bereits die AfD, die Lage auszunutzen. „Im Grunde steht die grundlegende medizinische Versorgung der Bevölkerung von Nordrhein-Westfalen auf dem Spiel“, heißt es aus der Fraktion. Die Landesregierung müsse unverzüglich handeln, um die Belieferung von Kliniken und Apotheken mit Kochsalz-Lösung sicherzustellen.
Nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums seien die Kliniken in NRW und in Deutschland bereits seit Monaten nur noch mit rund 80 Prozent der Bedarfe – zuletzt sogar bloß mit rund 50 Prozent – beliefert worden. Die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen betont aber: Man könne sich noch so organisieren, dass Patienten derzeit nicht gefährdet seien.
mit dpa