Marcel Breuer hätte es gefallen

Jil Sander interpretiert Bauhausmöbel von Thonet neu? Genauer: den Freischwinger S64 von Marcel Breuer und die Beistelltische B97? Was für eine naheliegende Idee! Eigentlich erstaunlich, dass sich die Modedesignerin erst jetzt dem Bauhaus zugewendet hat. So viel wie diese beiden, pardon, Institutionen der Gestaltung verbindet. Das Deutschsein zuallererst natürlich. Sowohl die Entwürfe aus dem Umkreis der berühmten Hochschule als auch Jil Sanders Mode gehören zu den Designerzeugnissen aus Deutschland, die weltweitgeschätzt werden. Dabei sind die Ideale, die das Bauhaus und Jil Sander teilen, nicht gerade bequem: Radikalität, Einfachheit, Vorwärtsgewandtheit. Doch es ist wohl gerade das gewisse Etwas Unerbittlichkeit, das man im Ausland von deutscher Gestaltung erwartet.

Jil Sander selbst, die ihr Unternehmen 2013 endgültig verlassen hat, berief sich jedenfalls immer wieder auf die Hochschule. „Die Ästhetik des Bauhauses in der Architektur, in den Objekten, in der Grafik war in meiner Jugend sehr präsent und hat mich tief beeinflusst“, sagte die 81 Jahre alte Hamburgerin etwa zuletzt in einem Interview anlässlich der Zusammenarbeit mit Thonet. Und in einem Gespräch mit dem F.A.Z.-Magazin aus dem Jahr 2017 anlässlich ihrer Einzelausstellung im Frankfurter Museum Angewandte Kunst rekapitulierte sie: „Bei mir ging es viel um Form, Funktion und Proportion. Ich wollte nie nur dekorieren.“ Eine Aussage, die sicher auch viele der am Bauhaus ausgebildeten Gestalterinnen und Gestalter sofort unterschrieben hätten.

„Ich wollte den S64 im Sinne Breuers ins Jetzt holen“

Mit dem Freischwinger S64 hat sich Jil Sander gleich eines der bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Bauhaus-Möbelstücke angenommen. Den Stahlrohrstuhl entwarf Marcel Breuer 1928 für Thonet. Der ehemalige Leiter der Bauhaus-Möbelwerkstatthatte die Hochschule kurz zuvor verlassen und versuchte, sich als Architekt in Berlin zu etablieren. Im Vorjahr hatten schon Mart Stam und Ludwig Mies van der Rohe eigene Versionen von Freischwingern aus Stahlrohr auf der Werkbundstellung in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung vorgestellt.

Es kam zu Urheberrechtsstreitigkeiten. Deshalb muss Thonet Breuers Entwurf bis heute den sperrigen Zusatz „künstlerisches Urheberrecht: Mart Stam“ mitgeben. Trotzdem hat sich der Freischwinger in beiden Versionen – mit Armlehnen (S64) und ohne (S32) – durchgesetzt. Der Stahlrohrstuhl gilt heute als einer der Bauhaus-Klassiker schlechthin. Übrigens auch bei den Twenty- und Thirtysomethings, die ihr Exemplar stolz in den sozialen Medien präsentieren.

Die Kollektion ist ein geradezu überfälliges Match.
Die Kollektion ist ein geradezu überfälliges Match.Unternehmen

„Ich wollte den S64 im Sinne Breuers ins Jetzt holen. Seine Konstruktion und Grundstruktur sind überzeugend und haben eine zeitgemäße Würdigung verdient“, sagt Jil Sander. „Es war eine schöne Herausforderung, im Geiste mit einem der wichtigsten Bauhaus-Designer zusammenzuarbeiten.“ Da sich Eingriffe in die Form und Struktur des Stuhls verbaten, konzentrierte sich Sander auf Materialien, Oberflächen und Details. Das Ergebnis ist die Kollektion „JS.Thonet“ mit den beiden Gestaltungslinien Serious in vier dunklen Farbtönen und Nordic mit einem hellen, warmen Erscheinungsbild.

Auffälligste Maßnahme Jil Sanders: auf die silbrig blitzende Verchromung zu verzichten. Das Stahlrohrgestell gibt es in der Serious-Version mit dunkelglänzender, titanfarbiger Beschichtung oder mit mattem Nickel-Silber-Finish in der Nordic-Variante. Keine geringe Veränderung, wenn man sich bewusst macht, dass Chromglanz in der frühen Moderne als aufregend und zeitgemäß galt und mit technischem Fortschritt verbunden wurde. „Ich wollte die Klassiker nicht neu erfinden“, sagt Jil Sander. „Mir geht es um Veredelung.“ Damit ist der Ton für die Zusammenarbeit gesetzt: Der Stahlrohrstuhl, ein Klassiker des Designs, wird noch einmal nobilitiert.

So verheiratete er Bauhaus mit Kaffeehaus

Eine ähnlich gediegene Sprache sprechen auch die anderen Materialien, die in der „JS. Thonet“-Kollektion zum Einsatz kommen. In der Serious-Version ließ Jil Sander die Holzrahmen von Lehne und Sitzfläche hochglanzlackieren, inspiriert vom Lack von Steinway-Flügeln. Die mit mattem Leder bezogenen Polster wiederum sind, so sagt die Autoliebhaberin und Bentley-Fahrerin, eleganten englischen Autos entlehnt. Als Alternative steht eine Bespannung mit dem dunkel eingefärbten Wiener Geflecht „Dark Melange“ zur Auswahl. Die Satztische B97 gibt es unter anderem mit Plattenaus weißem oder schwarzem Marmor. Nordic wiederum, die zweite Variante der Kollektion, öffnet mit klar lackierten oder weiß pigmentierten Rahmen aus Eichenholz und naturfarbigem Geflecht den Assoziationsraum Richtung Skandinavien.

Für eine Hamburgerin wohl naheliegend, für Thonet eher weniger. Denn neben der starken Bauhaus-Identität hat das Unternehmen auch einen großen österreichischen Erbteil: verkörpert durch den Kaffeehausstuhl aus Bugholz, die kongeniale Erfindung des Thonet-Gründervaters Michael Thonet. Die skandinavische Möbeltradition spielte in der mehr als 200 Jahre alten Unternehmensgeschichte dagegen keine große Rolle, abgesehen von einem Gastspiel des Pop-Designers Verner Panton.

Mit dem Freischwinger S64 hat sich Jil Sander eines der bekanntesten Bauhaus-Möbelstücke angenommen.
Mit dem Freischwinger S64 hat sich Jil Sander eines der bekanntesten Bauhaus-Möbelstücke angenommen.Unternehmen

Der Dreh der „JS. Thonet“-Kollektion Richtung Luxus mag nicht zum revolutionären Geist des Bauhauses passen – Marcel Breuer hätte die Kollektion wahrscheinlich dennoch gefallen. Denn schon Ende der Zwanzigerjahre hatte der Architekt und Gestalter mit seinem Entwurf für Thonet diesen Weg eingeschlagen, indem er den Freischwinger nicht mit spartanischem Stoff oder Formholz versah, wie Mart Stam das tat. Die DNA von Thonet im Blick, montierte der smarte Breuer auf das neuartige Stahlrohrgestell Rahmen aus gebogenem Buchenholz, bespannt mit Wiener Geflecht. So verheiratete er Bauhaus mit Kaffeehaus und machte die Möbelrevolution buchstäblich salonfähig. Daran knüpft Jil Sander jetzt an mit ihrem über die Jahrzehnte im Modegeschäft geschärften Gespür für Materialien.

Was diese Kollektion zum überfälligen Match macht, ist nicht Jil Sanders immer wieder beschworene Radikalität, die geistige Nähe zu den Ideen des Bauhauses. Es ist vor allem auch die Unerbittlichkeit in Sachen Qualität und Langlebigkeit, für die sie ebenso steht. Nur die besten Stoffe, gute Verarbeitung, innovative Schnitte: Die Modedesignerin wollte stets Kleidung entwerfen, die bleibt. Oder wie es Thonets Kreativdirektor Norbert Ruf formuliert: „Jil Sanders Mode stand immer für einen lässigen, eleganten Luxus – und wurde damit über viele Jahre gern getragen, so wie Möbel von Thonet, die Menschen oft ein Leben lang begleiten.“