Marathon-Staffeln sind tückisch: Ohne Stab vorm Dixi-Klo

Staffellauf ist eine hohe Kunst. Eine Kunst, bei der selbst Top-Läuferinnen und -Läufer versagen können. Der Wechselbereich ist eine kritische Zone. Hier zählt nicht nur die Schnelligkeit, alles muss passen. Der eine Läufer startet mit Vollspeed ins Nichts und hofft, dass der ankommende ihm den Stab in die Hand drückt – bevor die Wechsel­zone zu Ende ist.

Bei den Olympischen Spielen ging die amerikanische Männerstaffel über 4×100 Meter als Favorit ins Rennen. Startläufer Christian Coleman lag nach den ersten Metern auf dem ersten Rang. Kenneth Bednarek sprintete los, streckte seinen Arm aus, und es passierte: erst mal lange nichts. Zu lange. Bednarek nahm das Tempo raus, verkürzte seinen Schritt. Dann lief Coleman auf ihn auf. Die beiden rempelten sich an. Weg war das Gold.

Nun sollte man meinen, bei einer Marathon-Staffel müsste es viel einfacher sein. Die Zeit drängt nicht so sehr, der Wechsel muss nicht perfekt sein. Doch trotzdem geht es ums gleiche Thema: ums Suchen und Finden.

Da ist niemand, der wartet

Und das klingt einfacher, als es in der Realität ist. Bei der Marathon-Staffel in Frankfurt konnte man das erleben. Die erste Aufgabe in der Wechselzone ist, die Box zu finden, die zur eigenen Startnummer passt. Die zweite, weitaus schwierigere Aufgabe ist, den passenden Partner in dieser Box zu finden. Mitten im Chaos. Hier stehen Leute, deren Partner noch weit entfernt sind, ganz vorne. Und solche, die bald laufen müssen, ganz hinten. Es wird gesprungen, getrippelt und gedehnt. Anspannung bei allen. Werden sie gefunden? Finden sie? Speeddating ist nichts dagegen.

Manche haben das Handy in der Hand, die Augen auf dem Tracker, da steht der Partner schon vor ihnen – nun aber schnell los. Das ist der glückliche Fall. Es kann auch anders laufen: Andere sprinten zur Box. Bleiben dann stehen, lassen die Augen schweifen. Laufen mit rotem Kopf vor und zurück. Doch da ist leider niemand, der auf sie wartet. Sie wirken wie Hunde, die von ihren Herrchen an der Tankstelle ausgesetzt wurden. Verlassen und mit großen Augen tappen sie von der Strecke.

Im Pulk der Läufer geht der Blick für den Einzelnen schnell verloren: ein Problem für die Staffelläufer.
Im Pulk der Läufer geht der Blick für den Einzelnen schnell verloren: ein Problem für die Staffelläufer.Carlotta Steinkamp

Andere scheitern in Sachen Timing schon vor dem Wechsel. Sie haben die S-Bahn nicht erwischt und müssen zum Übergabepunkt sprinten. Oder aber sich noch kurz aufs Dixi-Klo verabschiedet – im Glauben, der andere brauche noch etwas.

Die Begeisterung ist umso größer, wenn der Stab dann doch noch den richtigen Empfänger findet – auch spätes Glück ist Glück. Doch Achtung: Vor Freude mit dem Staffelstab zu jubeln, konnte zu einem bösen Ende führen. In Frankfurt löst die Zeitmessung nur aus, wenn der Stab auf Hüfthöhe gehalten wird.

Wobei das Wort Stab für das Frankfurter Modell im Grunde unpassend ist: Hier wird ein blaues Papier wie eine Reliquie weitergereicht, eine von Läufer zu Läufer immer feuchtere Reliquie.

Ohne Stab geht nichts, das ist das kleine Einmaleins des Staffellaufens. Nicht jeder hat es parat. Auch in Frankfurt lief manch einer ohne Stab los. Dann wiederum braucht es etwas anderes, was für jede Staffel wichtig ist: gegenseitiges Vertrauen. Die Gewissheit, dass schon alles gut wird. Und wenn nicht, muss man sich beim nächsten Mal wieder auf die Suche machen.