Das Tor ist leer. Wo ist Manuel Neuer? Weit weg liegt er im Gras. Gabriel Martinelli schiebt locker ein, 3:1 für Arsenal, die erste Niederlage der Bayern in dieser Saison. Über diese Szene spricht Fußballdeutschland.
Vor dem inneren Auge hat man noch den jungen Neuer, der als Libero Bälle abläuft, manchmal an der Mittellinie. Der alte Neuer aber sprang an Martinelli vorbei ins Leere. Der alte Neuer war schon beim 1:0 für Arsenal an einen Eckstoß nicht mit den Fäusten rangekommen. In den Schlagzeilen am Tag danach liest man von „den Patzern von Neuer“.
Der Neuer 2025 muss damit leben, dass man ihn mit der Torwartikone vergleicht, die er einst war. Deswegen redet man nun weniger über seine Klasse, die er noch immer hat, als über seine Fehler. Selbst wenn es kleine oder sogar keine waren, wie beim Champions-League-Spiel in London.
Neuer ist fast 40, er musste schwere Verletzungen überstehen. Es stimmt, er ist nicht mehr so frisch, er hat in allem nachgelassen. Auf der Linie weniger, im Rauslaufen etwas mehr. Zuletzt überschätzte er bei einer Freiburger Ecke seine Fähigkeiten zum Absprung, wurde überlupft und hob den Arm. Es war nicht sein Reklamier-Arm, sondern sein Sorry-Arm. Es war ihm klar, das war sein Fehlgriff.
Die Szenen aus London waren lange nicht so eindeutig. Beim 1:0 stieß Neuer mit einem Gegner zusammen und geriet ins Stolpern. Das war möglicherweise ein Foul des Gegenspielers, mindestens jedoch Pech für Neuer. So konnte er nicht mehr den Eckstoß abwehren, der, wie üblich bei Arsenal, mit einer Schärfe geschlagen war, dass der Ball beinahe Feuer fing.
Beim 3:1 zahlte Neuer den Preis für die Risiken des Anarcho-Stils, mit dem die Bayern vor drei Wochen Paris überraschten. In diesem Moment stand der letzte Feldspieler 25 Meter in der gegnerischen Hälfte. Es war nicht mal ein Verteidiger, sondern Joshua Kimmich, zu dessen Stärken lange Laufduelle nicht zählen. Die Elf von Vincent Kompany verzichtete praktisch auf eine Abwehr.
Solche All-in-Aktionen kennt man aus der Nachspielzeit, wenn die zurückliegende Mannschaft alles nach vorn wirft. Aber nicht, wie in diesem Fall, aus der 76. Minute. Wäre die Chance auf Rettung wirklich größer gewesen, wenn Neuer im Tor geblieben wäre? Musste er damit rechnen, dass Martinelli eine vielleicht unabsichtliche, wundersame Ballmitnahme gelingen würde, dank der er Neuer umkurvte?
Hätte ein anderer deutscher Keeper den Schuss von Declan Rice gehalten?
Dieses Gegentor, das das Spiel entschied, sollte eher das Hochrisikoverhalten der Defensive infrage stellen als das schwächste Glied in dieser Kette, den Torwart. Die Bayern dürfen sich sogar glücklich schätzen, einen zu haben, der es loyal mitträgt, wenn man ihn bei Kontern alleine lässt. Gianluigi Donnarumma würde seinen Mitspielern wohl den Vogel zeigen. „Ich sag‘ mal, dass er schneller ist als Jo“, sagte Neuer nach dem Spiel über Martinelli. „Das war mir klar, ich habe versucht, das vorher zu beseitigen.“
Besonders schuldig fühlte er sich nicht. In Sachen Selbstvertrauen ist Neuer noch der Alte. So klärte er kurz nach dem 1:3 einen Steilpass außerhalb des Strafraums. Wenn man ihm einen Vorwurf machen kann, dann den, dass er als Kapitän die Balance seiner Mannschaft nicht besser steuert.
Überhaupt war er nicht der Hauptverantwortliche für die verdiente Niederlage. Das Spiel taugt nicht zu grundlegenden Zweifeln an ihm. Die Debatte über ein mögliches Comeback in die Nationalmannschaft, die trotz seines Rücktritts geführt wurde, ist wohl nicht für immer beendet. Sie war aber ohnehin abgekühlt, weil Oliver Baumann zuletzt gut hielt.
Zu welchen Taten Neuer in der Lage ist, bewies er nämlich auch in London. Einmal verhinderte er ein Tor in Hampelmanntechnik, wie ein Handballtorwart. Ein anderes Mal wehrte er aus kurzer Distanz mit dem Fuß einen gefährlichen Schuss von Declan Rice zu dessen Überraschung ab. Hätte das ein anderer deutscher Keeper hinbekommen?
