
Stark, unabhängig, gefasst – so wurde das Ideal des Mannes lange definiert. Doch dieses Bild bröckelt, Forscher sprechen von einer Krise der Männlichkeit. Was heute als männlich gilt und welche Rolle Biologie und Gesellschaft dabei spielen.
Wann ist ein Mann ein Mann? Die Frage stellt nicht nur Herbert Grönemeyer in seinem Hit „Männer“, sondern sie wird schon seit Langem immer wieder neu diskutiert. Auch am internationalen Weltmännertag am 19. November könnte es wieder ein Thema sein, was in der heutigen Zeit Männlichkeit bedeutet.
Der Sachbuchautor und Männerberater Boris von Heesen sieht drei besonders hartnäckige Erzählungen zum Thema Männlichkeit, die bis heute prägend wirken: Männer müssten ihre Probleme allein lösen, körperlich unzerstörbar sein und den Wert ihrer Männlichkeit über Lohnarbeit und Familienversorgung definieren.
„Ich bin davon überzeugt, dass alle drei sozial konstruiert sind“, sagt von Heesen. Schon bei kleinen Jungen würden emotionale Zurückhaltung und Leistungsorientierung gefördert, während Empathie und Fürsorge eher an Mädchen adressiert würden. So entstehe eine Aufgabenteilung, die Männer und Frauen bis heute voneinander trenne – mit klaren Nachteilen für beide Seiten.
Sobald Kinder im Haushalt leben, arbeiten nur 34 Prozent der Frauen in Vollzeit – bei den Männern hingegen sind es 94 Prozent. „Damit werden Männer effektiv von ihren Kindern getrennt und Frauen von der Gestaltung ihrer beruflichen Karrieren“, so von Heesen. Die Folge seien Belastungen psychischer und körperlicher Natur.
Solche Sichtweisen decken sich mit zentralen Ansätzen der internationalen Männlichkeitsforschung. Wie der Geschlechterforscher Stefan Horlacher von der Technischen Universität Dresden beschreibt, gilt Männlichkeit heute nicht mehr als biologisch festgelegte Eigenschaft, sondern als ein kulturell geformtes Geflecht aus Erwartungen, Handlungen und sozialen Rollen.
Männlichkeit, schreibt Horlacher, sei „ein historisch variables Bündel kultureller Normen“, das immer wieder neu hervorgebracht werde – durch wiederholte Handlungen, Gesten und Selbstbilder.
Die Soziologin Raewyn Connell prägte einst den Begriff der „hegemonialen Männlichkeit“: jene dominante, gesellschaftlich anerkannte Form von Männlichkeit, die Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern aufrechterhält – und zugleich andere, alternative Formen von Männlichkeit unterordnet.
„Krise der Männlichkeit“ – oder eine Chance?
In öffentlichen Debatten ist oft von einer „Krise der Männlichkeit“ die Rede. Horlacher hält das für verkürzt. Nicht Männlichkeit selbst sei in der Krise, sondern „das traditionelle Patriarchat und die damit verbundenen hegemonialen Formen von Männlichkeit“, die Vorstellung, sie müsse stabil, stark und eindeutig sein, erklärt Horlacher. Weil diese Formen der Männlichkeit angeblich bedroht seien, „werden sie von rechten und konservativen Kreisen so stark propagiert.“
Tatsächlich befinde sich Männlichkeit seit jeher im Wandel – und genau darin liege ihr Kern. Die viel zitierte Krise ist laut Horlacher eher Ausdruck eines Übergangs, eines kulturellen Aushandlungsprozesses, was Männlichkeit bedeutet. „Das alte Bild des unabhängigen, starken und dominanten Mannes ist unter Druck geraten“, sagt er. Viele Männer fühlten sich dadurch herausgefordert, ihre Rolle zu hinterfragen – ein Prozess, der anstrengend sei und Unsicherheit auslöse. „Deshalb sind junge Männer empfänglich für einfache Antworten und extrem verkürzte, unwissenschaftliche Erklärungsmuster.“
Von Heesen beobachtet, dass viele junge Männer daher derzeit vermehrt in rechte Online-Communities oder antifeministische Diskurse abgleiten. Algorithmen in sozialen Medien verstärkten diesen Effekt, indem sie Inhalte mit antifeministischem oder frauenfeindlichem Gehalt bevorzugt ausspielten.
Zwischen Biologie und Gesellschaft
Welche Rolle biologische Faktoren bei unserem Bild von Männlichkeit spielen, lässt sich nach Ansicht von Heesens kaum eindeutig beantworten. „Nehmen wir das Hormon Testosteron – es gibt Studien, die biologische Einflüsse belegen, und andere, die das klar widerlegen.“
Wichtiger sei es, soziale Konstruktionen zu erkennen, die Menschen in enge „Geschlechtergefängnisse“ zwängen. Eigenschaften wie Empathie, Fürsorglichkeit oder Kooperation würden Männern immer noch seltener zugeschrieben, obwohl sie entscheidend für gesellschaftlichen Zusammenhalt seien.
Horlacher verweist darauf, dass Männlichkeit weder naturgegeben noch statisch sei. Sie zeige sich vielmehr in vielfältigen Formen – abhängig von sozialer Schicht, Herkunft, Religion oder Generation. In der modernen Männlichkeitsforschung gehe es daher nicht mehr darum, eine einheitliche Definition zu finden, sondern die Vielfalt und Widersprüche von Männlichkeit zu verstehen.
„Wir müssen dahin kommen, dass Männer sich selbstverständlich empathisch, fürsorglich und kooperativ verhalten können – in Familie und Beruf“, fordert von Heesen. Dafür brauche es neue Leitbilder, die Stärke nicht über Härte definieren, sondern über Verantwortung.
Dass Männer laut Horlacher im Durchschnitt früher sterben, häufiger zu riskantem Verhalten neigen und seltener psychologische Hilfe suchen, ist dabei kein Zufall, sondern Teil dieser erlernten Muster. Beide Forscher sind sich einig: Nur wer Männlichkeit als wandelbares, lernbares Konzept versteht, kann Strukturen aufbrechen, die Männern und Frauen schaden.
dpa/ly
