Manfred Lütz: Warum unser Leben nicht sinnlos ist!

Alle 25 Jahre gibt es ein Heiliges Jahr. Das beginnt am 24. Dezember mit der Öffnung der Heiligen Pforte im Petersdom. 45 Millionen Pilger werden dann in den folgenden zwölf Monaten in Rom erwartet. „Himmel hilf!“, möchte man rufen. Doch Rom sei Massen gewöhnt und durch Sanierungen um den Petersplatz gut vorbereitet, sagt Manfred Lütz. Der Psychiater und Theologe ist da ganz pragmatisch.  Ein Gespräch über Zweifel und Zuversicht, Wallfahrten und Tränen vor Michelangelos Pietà.

AZ: Herr Lütz, feiern tut jeder Gemeinschaft gut. Die katholische Kirche hat sich da über die Jahrtausende eine unvergleichliche Expertise erarbeitet. Aber kann ein Heiliges Jahr noch etwas retten?
MANFRED LÜTZ: Na ja, wenn man erlebt, wie die Kirchen sich zurzeit selber zerlegen, kann man auf den Gedanken kommen, dass nix mehr zu retten ist. Aber ein sogenanntes Heiliges Jahr, das seit dem Jahr 1300 stattfindet und zuletzt wenigstens alle 25 Jahre gefeiert wird, soll ja Gelegenheit zum Innehalten, zur Vergebung von Verletzungen und zum Neuanfang geben. Für jeden Einzelnen, aber auch für die katholische Kirche insgesamt.

Den Ausfall der Kirchen kompensieren

Selbst bekennende Atheisten machen sich langsam Sorgen.
Gregor Gysi hat zu Recht gesagt, er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhandenkommen könnte. Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Jürgen Habermas, Deutschlands bekanntester Philosoph, dringt auf „rettende Übersetzungen“ der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, um den Menschenwürdebegriff zu begründen. Deswegen ist es mir vor allem ein Anliegen, trotz des weitgehenden Ausfalls der Kirchen, wenigstens die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaftsordnung lebendig zu halten.

Ruft das Heilige Jahr morgen aus: Papst Franziskus, hier mit Menschen auf dem Petersplatz mit beim Angelus-Mittagsgebet.
Ruft das Heilige Jahr morgen aus: Papst Franziskus, hier mit Menschen auf dem Petersplatz mit beim Angelus-Mittagsgebet.
© picture alliance/dpa/AP
Ruft das Heilige Jahr morgen aus: Papst Franziskus, hier mit Menschen auf dem Petersplatz mit beim Angelus-Mittagsgebet.

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Was würden Sie der Kirche denn raten?
Gerade im Bereich des Umgangs mit dem Missbrauchsthema wieder stärker auf kompetente Wissenschaft zu hören. Und sich auf die wesentlichen Fragen zu konzentrieren. Das ist zum Beispiel die Frage, ob Gott existiert, ob es das ewige Leben gibt und ob Gebete helfen? Darüber wird kaum noch geredet. Da geht es eher um moralische Fragen. Doch das stand nie im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Ich habe der katholischen Kirche ein mindestens 10-jähriges Bußschweigen zu allen sexuellen Fragen vorgeschlagen. Man sollte zu diesen Themen einfach den Mund halten.

Wer archäologische Sammlungen besucht, realisiert: Alles geht irgendwann unter. Der Anspruch auf Ewigkeit konnte nie etwas bewirken.
Das Christentum und die Kirche gibt es aber immerhin schon 2000 Jahre und seine Grundintuitionen prägen selbst Atheisten in unserer Gesellschaft so stark, dass es nicht einfach verschwinden wird. Der Satz Jesu „Liebet eure Feinde, tuet Gutes denen, die euch hassen“, war revolutionär. In überhaupt keiner Gesellschaft hat man die Feinde geliebt, Feinde waren zu töten. Und auf Hass nicht mit Hass zu reagieren, war völlig unplausibel. Dennoch hat das unser Menschenrechtsverständnis geprägt und unseren doch – im Gegensatz zur germanischen Gewalttätigkeit – außerordentlich friedlichen Umgang miteinander.

Sinn kann man auch in der Kunst finden und spüren

Sie wirken nie deprimiert. Ist das gute Tarnung, oder sind Sie einfach höllisch zuversichtlich?
Als Christ habe ich die Zuversicht, dass die Zukunft letztlich in Gottes Hand liegt. Außerdem bin ich Rheinländer und kann die Welt und auch mich durch Humor besser ertragen.

Wo bleibt das Zweifeln – bei all den Übeln auf dieser Welt?
Schon der heilige Augustinus hat gesagt: „Ich zweifle, also bin ich“. Wer nicht zweifelt, lebt ja geistig nicht. Auch mich erschüttert vieles, in der Welt, bei meinen Mitmenschen, in der Kirche. Gerade da muss sich der Glaube ja bewähren, und da helfen nicht irgendwelche frommen Sprüche. Mutter Teresa hatte ihr Leben lang erschütternde Glaubenszweifel, ist aber in Kenntnis dieser Zweifel sogar heiliggesprochen worden.

Bob Dylan singt zwar „Remember that dead is not the end“. Aber vielen fällt das schwer, und den Verstand kann man nicht einfach abschalten.
Das darf man auch aus christlicher Sicht nicht. Gerade mit dem Verstand weiß ich doch, dass es Erlebnisse gibt, die ich nicht messen, wiegen, zählen kann und die doch für ein Leben entscheidend sind: Die Liebe zu einem Menschen, die Überzeugung, dass es einen Sinn im Leben gibt, die Ergriffenheit von Musik und Kunst.

Hilft die Kunst bei der Suche nach dem Sinn?
Die These meines neuen Buches ist, dass man den Sinn des Lebens tatsächlich sehen kann: und zwar in großer Kunst. Immerhin haben die mittelalterlichen Menschen den Sinn des Lebens nur gesehen, denn sie konnten zumeist nicht lesen und schreiben, aber in den Bildern ihrer Kirchen sahen sie, was sie glaubten.

Schlüsselfigur: Michelangelos Pietà im Petersdom

Besteht nicht die Gefahr, dass Kunst zum Religionsersatz wird?
Klar, aber wenn sich jemand nicht bloß bildungsbürgerlich betulich mit Kunst beschäftigt, sondern sich in der Seele von Kunst berühren lässt, dann kann das ein echtes religiöses Erlebnis sein.

Diese Kunst finden Sie ausschließlich in Rom. Da wären doch noch Paris und Notre Dame, Köln, die bayerischen Barockkirchen
Keine andere Stadt war so lange wie Rom Hauptstadt: erst Hauptstadt nahezu der gesamten der Antike bekannten Welt, dann Hauptstadt der weltweiten katholischen Kirche. Deshalb haben hier die größten Künstler ihr Bestes gegeben.

Jauchzet, frohlocket – mit der Musik haben Sie es nicht so?
Natürlich kann auch Musik den Himmel öffnen, wie wir es gerade beim Eröffnungskonzert in Notre Dame de Paris erleben konnten. Doch in einem Buch kann ich keine Töne verbreiten, den Eindruck von großer bildender Kunst aber sehr wohl. Ich habe deswegen den Verlag gebeten, wirklich schöne Bilder beizufügen, damit man das Kunsterlebnis auch im Buch haben kann und dafür gar nicht nach Rom fahren muss.

Eine Mutter, die lächelt angesichts des Leichnams ihres Sohnes, das kann man nur verstehen, wenn diese Mutter wirklich an die Auferstehung glaubt.Michelangelos "Pieta" im Petersdom.
Eine Mutter, die lächelt angesichts des Leichnams ihres Sohnes, das kann man nur verstehen, wenn diese Mutter wirklich an die Auferstehung glaubt.Michelangelos „Pieta“ im Petersdom.
© IMAGO/Design Pics
Eine Mutter, die lächelt angesichts des Leichnams ihres Sohnes, das kann man nur verstehen, wenn diese Mutter wirklich an die Auferstehung glaubt.Michelangelos „Pieta“ im Petersdom.

von IMAGO/Design Pics

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Für Sie ist Michelangelos Pietà das stärkste Glaubensbekenntnis der Kunstgeschichte. Weshalb gerade eine Mutter, die ihren toten Sohn in den Armen hält?
Elke Heidenreich hat in ihrem Buch „Ihr glücklichen Augen“ beschrieben, wie sie als 16-Jährige zum ersten Mal vor der Pietà stand und so ergriffen war, dass sie in Tränen ausbrach. Es sei das größte Kunsterlebnis ihres Lebens gewesen. Ich glaube, dass ein Atheist, der sich fünf Stunden lang verständig die Pietà anschaut, anschließend Christ werden kann. Ohne Texte. Man sieht unten in den Gewandfalten noch das ganze Leid, und je näher der Blick zum Gesicht geht, desto ruhiger werden die Falten. Wenn man dann dieses Gesicht genauer anschaut, sieht man, dass Maria leicht und anmutig lächelt. Eine Mutter, die lächelt angesichts des Leichnams ihres Sohnes, das kann man nur verstehen, wenn diese Mutter wirklich an die Auferstehung glaubt. Und dieser Leib Jesu ist so unglaublich schön gebildet, dass man da Menschwerdung Gottes buchstäblich sehen kann. Auferstehung: gefeiert an Ostern! Menschwerdung: jetzt an Weihnachten! Der Rest am Christentum ist nebensächlich.

Vor dem Fegefeuer schon mal büßen

Nochmal zum Heiligen Jahr. Was hat es mit dem „Ablass“ auf sich?
Wer im Heiligen Jahr nach Rom pilgert und ein paar andere Bedingungen erfüllt, dem können die sogenannten zeitlichen Sündenstrafen erlassen werden. Dieser „Ablass“ wird immer wieder falsch verstanden: Man kann durch Almosen, Wallfahrten oder gute Werke natürlich keine Sünden ungeschehen machen. Schuld vergeben kann nur Gott – in der Beichte zum Beispiel. Aber selbst wenn die Schuld vergeben ist, hat man doch Schlimmes angerichtet – was man abbüßt: im Fegefeuer, glauben die Katholiken. Also nach dem Tod, bevor man dann geläutert in den Himmel eingeht. Und dieses Abbüßen kann man schon hier auf Erden beginnen. Eben durch Wallfahrten, Almosen und gute Werke. Dafür ist eine Wallfahrt nach Rom im Heiligen Jahr ein besonders starkes Zeichen.

Das Heilige Jahr wird vorübergehen wie das Leben jedes Einzelnen. Und dann?
Das Heilige Jahr ist ja nur eine Hilfe auf der Pilgerschaft unseres Lebens. Aber es sollte Auswirkungen haben. Ich habe es mir zum Beispiel zur Aufgabe gemacht, in einem Heiligen Jahr all den Menschen, mit denen ich Krach hatte, wenigstens ein Gespräch anzubieten. Das ist zwar ehrlich gesagt mühsam, aber hatte ganz berührende Effekte.

Momente, die die Zeit sprengen

Was kommt nach dem Tod, was bedeutet für Sie ewiges Leben?
Es passiert schon in diesem Leben, wenn man einen Menschen ganz intensiv liebt, ergriffen ist von Musik und Kunst, das sind Momente von Ewigkeit, die die Zeit sprengen, in der sie geschehen. Ich stelle mir vor, dass aus der Substanz dieser Momente das Ewige Leben besteht, nicht aus den Momenten, in denen ich meine Zähne geputzt habe. Die werden verwesen.

Und jetzt sind wir beim Weihnachtsfest: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben“.
Wenn die Christen glauben, dass Gott Mensch geworden ist, dann heißt das auch, dass man in Menschen Gott begegnen kann und vor allem, dass wir nicht sinnlose, winzig kleine Lebewesen in einem sinnlosen, gigantischen kalten Weltall sind, sondern jeder und jede von Gott geliebt und gewollt ist.

Wie feiern Sie?
In der Großfamilie, dieses Jahr mit 32 Personen: Kinder, Geschwister, Neffen, Nichten und unübersichtlich viele Großneffen und Großnichten, aber in den vergangenen Jahren immer auch mit Flüchtlingen. Und dann geht’s in den Gottesdienst.

Manfred Lütz: „Der Sinn des Lebens“ (Kösel Verlag, 368 Seiten, 155 Farbfotos, 30 Euro)

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