In einem Sozialen Medium habe ich einen Beitrag gelesen, in welchem ein statistisch gebildeter Autor sich die Frage stellte, ob die Presse die Stimmung in der Bevölkerung macht oder ob sie sie bloss abbildet. Dazu schaute er sich Umfragen der Form „Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem?“. Die Antworten variieren von Jahr zu Jahr. Mal ist es ein Krieg, mal ist es die Klimaerwärmung und mal sind es die Flüchtlinge und Migranten. Der Autor des Beitrages, auf den ich mich beziehe, wählte die Sorge „Migration“ und schaute sich an, wie viele Texte darüber im betroffenen Zeitabschnitt in den meistgelesenen Standardmedien erschienen sind. In diesem Zeitabschnitt hat er auch mehrere Umfragen der Form „Worüber sorgen Sie sich am meisten?“ gefunden, die auch über den Intensitätsgrad der Sorgen Auskunft gab. So konnte der Autor die Intensität der Sorgen und die Anzahl darüber veröffentlichter Texte in derselben Periode verfolgen und stellte einen hohen Korrelationsgrad der beiden Parameter fest.
Aufschaukelder Zykel
Aus der Sicht von Systems Dynamics ist das nicht erstaunlich. Ich möchte hier wieder einmal an die Grundlagen von System Dynamics und an Senges Archetypen erinnern, die in der aktuell unsicheren Zeit viel Klarheit schaffen. Hingegen mache ich hier keine Aussagen zum Thema „Migration“ und „Zuwanderung“. Das Thema verwende ich bloss als Beispiel, um die Wirkungsweise systemischen Denkens zu demonstrieren.
Ich beobachte mit Besorgnis, wie immer mehr Menschen in Denkfallen gefangen sind und sich nicht mehr daraus befreien können. System Dynamics kann als eine Art Sprache angesehen werden, mit der Denkfallen durchschaut werden können. Die sogenannten Systemarchetypen (von Peter Senge) sind in der Sprache System Dynamics formuliert und beschreiben weit verbreitete Denk- und Handlungsfallen. Der einfachste Archetyp ist z.B. der aufschaukelnde Zykel, in Englisch besser reinforcing cycle genannt, in dem eine Ursache eine Wirkung verstärkt und diese verstärkend auf die Ursache zurück wirkt.
In Die Kunst, Wirkungsnetzwerke zu zeichnen habe ich erklärt, was ein sich aufschaukelnder Rückkopplungszykel oder in Englisch, ein reinforcing cycle, ist: zwei oder mehrere Parameter, die sich gegenseitig Ursache und Wirkung sind, verstärken sich abwechslungsweise (oder schwächen sich ab). Es ist eben nicht so, dass die Welt aus linearen Ursache-Wirkungsketten besteht. Das wäre lineares Denken. Barry Richmond erklärt in seinem Artikel The Thinking in Systems Thinking: Eight Critical Skills, wie sich lineares Denken – oder, wie er es nennt: Laundry-List-Thinking – von systemischem Denken unterscheidet. Jede Wirkung beeinflusst ihre eigene Ursache, u.U. mit einer gewissen Verzögerung. Das führt dann zu unvorhergesehenen, aber höchst interessanten und vielfältigen Oszillationen im System. Einer der einfachsten und bekanntesten reinforcing cycle dürfte der Kapital-Zins-Feedbackloop sein. Je mehr Kapital Sie auf Ihrem Konto haben, desto mehr absoluten Zinsertrag gibt das Konto her und desto schneller wächst Ihr Kapital an, das dann noch mehr Zinsertrag abwirft und so weiter. Das Kapital wächst exponentiell, obwohl der Zinssatz konstant ist! Zumindest ist er während eines längeren Zeitabschnitts konstant. Aber manchmal „passen“ die Banken den Zinssatz an, d.h. ändern ihn, oft in Abhängigkeit vom Kapital. Wenn zu viel gespart wird, also die Gesamtheit der Sparkonten so gross ist, dass die Banken die jährliche Zinslast kaum mehr tragen können, sinken die Sparzinsen.
Kleine Unterschiede machen es aus
So beeinflussen sich Kapital und Zinserträge gegenseitig. Beide sind sowohl Ursache als auch Wirkung zugleich. Dass jede Wirkung auf ihre eigenen Ursachen zurückwirkt, wird viel zu wenig beachtet. Sie kennen ja Wlatzlawicks Geschichte einer Ehe?! Die Ehefrau wirft ihrem Mann vor, er würde sich zurückziehen, indem er ständig in die Kneipe gehe. Dieser sagt, er gehe nur aus, weil seine Frau zuhause ständig an ihm herumnörgle. Weil sie nörgelt, zieht er sich zurück. Weil er sich zurückzieht, nörgelt sie. Eine klassische Huhn-Ei-Problematik. In der Kommunikationsforschung nennt sich der Startpunkt Interpunktion. Aus der Sicht der Frau besteht das Problem darin, dass sich der Mann zuerst zurückgezogen hat, während aus der Sicht des Mannes die Frau angefangen hat, ständig an ihm herum zu nörgeln.
Damit ein reinforcing cycle funktioniert, dürfen die Parameter jedoch nicht Null sein. Wenn kein Kapital vorhanden ist, gibt es auch keinen Zins, sogar, wenn der Zinssatz 100 % betragen würde. Umgekehrt gibt es keinen Zins, wenn der Zinssatz 0 % beträgt, auch wenn das Kapital einige Millionen beträgt. Wo nichts ist, bewegt sich auch nichts. Aber immer entsteht etwas zufälligerweise und ein reinforcing cycle kann starten. So ist es vor allem mit Meinungen, Überzeugungen und Glauben. In einer Gesellschaft schlummert jede erdenkliche Meinung. Solange diese aber nur von wenigen vertreten werden, werden sie auch nicht gehört. Wenn nun wegen eines externen Ereignisses merklich viele Migranten ins Land kommen, berichten Zeitungen zunächst nur informativ darüber und gleichzeitig können einwanderungsskeptische Meinungen auf sich aufmerksam machen. Das Thema wird an den Stammtischen und in den Sozialen Medien immer lauter diskutiert. Jetzt wird die Presse erst recht anbeissen. Immerhin ist eine Zeitung ein kaufmännisches Unternehmen und hat viele bis sehr viele Löhne zu bezahlen, von den Shareholderinteressen ganz zu schweigen. Selbstverständlich nimmt eine Zeitung ihren Informationsauftrag ernst, aber allein davon kann sie nicht leben. Es gibt Artikel, die sich besser verkaufen, als andere und so wird sich die Zeitung vermehrt auf diese konzentrieren. Information gepaart mit «Sex and Crime». Wenn also alle potentiellen Leser mit hochrotem Kopf herumlaufen und nach Bestätigung ihrer Meinung lechzen, dann befriedigt die Zeitung ihne Bedürfnisse noch so gerne.
Wer hat, dem wird gegeben
Hier kommt ein zweiter Archetypus ins Spiel. Er nennt sich Erfolg den Erfolgreichen. In seinem Buch Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003. ISBN 3-608-91379-3) hat Peter Senge ca. 10 sogenannte System-Archetypen beschrieben. Systemarchetypen beschreiben die Entwicklung eines dynamischen Systems unter bestimmten verallgemeinerten Bedingungen.
Im Archetypus Erfolg den Erfolgreichen greifen zwei reinforcing cycles ineinander. Wenn zwei Lager gleich stark sind, dann passiert nichts. Aber wenn ein Lager auch nur ein klein wenig stärker ist, als das anderen, wächst es an, während das andere verkümmert. Die Zeitung wird sich fragen, welche Meinung wohl stärker ist, ob die migrantenskeptische oder die migrantenfreundliche. Die Auflage wird proportional zu der Stärke der Meinung sein, die die Zeitung unterstützt. Demographische Verteilungen sind nicht so ohne weiteres klar. Umfragen und deren Auswertungen sind zeitaufwändig und teuer und ihre Aussagen sind nicht immer eindeutig.
Wir betrachteten bloss den linken Zykel, aber eigentlich sind es zwei konkurrenzierende: das Lager der Migrationsskeptiker und das Lager der Migrationsfreundlichen. Vermutlich gibt es sogar noch weitere Lager, so dass wir eigentlich ein Bouquet an Zyklen betrachten müssten. Der linke Zykel geht so: Die Intensität der Sorge um die Einwanderung entsteht durch den Austausch von Erfahrungen. Da ist z.B. einer, der den Eindruck hat, eine Arbeitsstelle an einen «Ausländer» verloren zu haben. Er empört sich am Stammtisch und in den Sozialen Medien und schreibt Leserbriefe in den Zeitungen. Ein anderer behauptet daraufhin, dass Migranten hohe Unterstützungsbeträge erhielten, während er als Arbeitsloser viel weniger erhält. Als «Beweis» für diese Behauptung zitiert er Zeitungsartikel, die er sorgfältig gelesen und ausgeschnitten habe. Dieses Aufheizen in der Bevölkerung führt zu einer Zunahme und Etablierung migrationsskeptischer Meinungen, was wiederum die Presse anfeuert.
Bestände und Flüsse
Die Stärke der migrantionssketischen Meinung entspricht in diesem Feedbackzykel dem Kapital, während die Presse die Rolle des Zinses spielt, d.h. sie ist u.a. für die Zunahme der Meinung verantwortlich. Man spricht von Beständen und Flüssen. Eine Meinung ist innerhalb einer Gesellschaft ein Bestand, so wie z.B. die Wassermenge in einer Wanne. Der Wasserhahn erlaubt es, den Zufluss zu regeln. Vielleicht können Sie sich vorstellen, dass man mit einem Schwimmer den Wasserhahn so steuern kann, dass er mehr Wasser einfliessen lässt, je höher der Wasserstand in der Wanne bereits ist. Das entspricht dem «Je höher das Kapital, desto höher der Zinsertrag, der in das Kapital hinein fliesst». Die Presse übernimmt somit die Rolle des Wasserhahns. Sie reagiert auf den Bestand. Ok, es sind noch andere, die am Wasserhahn drehen, insbesondere natürlich das migrationsfreundliche Lager. Die Situation der Einwanderung und ihre Wahrnehmung im Volk ist viel komplexer, als das Füllen einer Badewanne oder der Zinsmechanismus eines Sparkontos. Aber die Aufteilung in Bestand und Fluss ist schon sehr hilfreich, um zu verstehen, was sich da bewegt.
Das kann man sogar simulieren! Im insightmaker können Sie sich gratis ein Konto anlegen und selber solche Modelle basteln. Bestand-Fluss-Modelle lassen sich dann simulieren, d.h. der Computer der Firma insightmaker rechnet dann aus , wie sich der Bestand entwickelt. Das sieht z.B. so aus:
Je nachdem, wie weit jetzt die Presse den Wasserhahn öffnet, wird sich die Diskussion um das Asylwesen und um Zuwanderung aufheizen. Und je aktueller und aufgeheizter die öffentliche Meinung ist, desto mehr Aufmerksamkeit erhält ein Leitartikel, der sich des Themas annimmt. Es ist also zu erwarten, dass die beiden Parameter – «Intensität der Sorge betr. Einwanderung» und «Anzahl der Pressetexte zum Thema» – sich einander hochschaukeln. Mal erscheinen mehr Artikel, während die Sorge etwas zurückgeht, mal ist die Sorge gross, während die Presse dem Thema etwas weniger Aufmerksamkeit schenkt. Die Presse macht also ohne Zweifel Stimmung im Volk und bildet sie dann wieder ab.