
Einmal probierte es Luka Modric noch. Fast über die komplette Dauer dieser Auswärtspartie gegen Juventus Turin hatte die AC Milan dominiert, die besseren Chancen gehabt, sogar einen Elfmeter verschossen. Und immer wieder waren es Modrics Pässe, die den Takt angaben. Einer erreichte in der 90. Minute den Stürmer Rafael Leão, der allerdings genauso vergab wie seine Kollegen vor ihm, weshalb es bei einem 0:0 blieb, das beiden Teams nominell eine Verfolgerposition in der Tabelle der Serie A verschafft. Die Mailänder allerdings, sie wirken derzeit wesentlich ambitionierter als viele Vereine, die in der Tabelle um sie herum stehen. Was zentral mit ihrem Spielgestalter zu tun hat.
Wie oft der Satz schon geschrieben wurde, dass Luka Modric es noch einmal probieren möchte, ist kaum zu recherchieren. Er war allerdings – das ist eine Lehre des vergangenen Jahrzehnts – immer und immer wieder falsch. Denn Modric probiert gar nichts in seiner Karriere, es wirkt nie wie ein Versuch bei ihm – es gelingt ihm einfach alles. Immer und immer wieder.
In den vergangenen Wochen etwa eroberte er eine ganze Fußballnation in nur wenigen Partien. In Italien liegen ihm die Menschen und die Zeitungen schon jetzt, im Oktober, zwei Monate nach seiner Ankunft, zu Füßen. Nicht nur in der rot-schwarzen Hälfte Mailands, sondern in Wahrheit überall, wo Modric hinkommt, wird ihm eine besondere Ehrung zuteil. Der ehemalige Milan-Abwehrspieler Filippo Galli etwa schrieb vor einigen Tagen in seiner Kolumne: „Genießen wir ihn, ohne lange nachzudenken, geben wir uns der Schönheit seines schlichten Fußballs hin, so wie ein Designobjekt schlicht ist – das heißt, nachdem alles Überflüssige entfernt wurde.“
Alles Überflüssige zu entfernen und auf den vollendeten Modric zu vertrauen, das ist aktuell der Stil der AC Milan. Die Vorarbeit gelang im Sommer dem Sportchef Igli Tare, der den Kroaten im Alleingang überzeugte vom Wechsel zu einem Verein, den er als Kind schon liebte. Und nun kann man dem neuen, alten Trainer Massimiliano Allegri bei der Arbeit zusehen. Er hat den Mailändern ein neues Gesicht gegeben, mit den gewohnten Stilmitteln. Allegri will keine Fußballfeste, er will um jeden Preis gewinnen. Und dafür stehen die Chancen gar nicht mal schlecht: Das neue Milan hat den Vorteil, dass das alte Milan der Vorsaison so krachend versagt hat, dass unter der Woche kein Europapokal ansteht. Der Fokus auf die Liga mag finanziell und emotional eine Katastrophe für einen so stolzen Verein sein, inhaltlich ist er allerdings für Trainer und Mannschaft äußerst reizvoll. Niemand hat das besser bewiesen als der Meister der Vorsaison, die SSC Napoli, die ihren Scudetto auch deshalb gewann, weil die Konkurrenten im Kopf nicht immer beim Ligaalltag waren.
Wer noch weitere Argumente brauchte für Milans Konkurrenzfähigkeit, musste sich nur die Partie der Vorwoche anschauen. Modrics vorzeitige Krönungsmesse fand im San Siro statt, am 5. Spieltag, beim 2:1 gegen den angereisten Meister aus Neapel. Allegris Matchplan ging voll auf, Milan führte 2:0, Modric überragte. Bis eine unnötige rote Karte in der zweiten Halbzeit das Spiel ins Wanken brachte, der Anschlusstreffer folgte. Und schließlich eine halbe Stunde, in der sie in Mailand die andere Seite ihres Spielgestalters kennenlernten.
Man muss verstehen, dass Luka in seiner Lebens- und Arbeitsweise völlig anders ist als andere.
Ivan Rakitic, ehemaliger Teamkollege in der kroatischen Nationalmannschaft
Modrics Pässe, seine Ballberührungen, seine Übersicht, darüber wurden schon viele Oden geschrieben. So wie er aber den Ballon d’Or im Jahr 2018 allerdings nicht (nur) für seine Leistungen im feinen Ballett bei Real Madrid gewann, sondern vor allem wegen seiner unermüdlichen Schufterei mit dem kroatischen Nationalteam bis ins WM-Finale, so war es auch diesmal: Die Herzen, beziehungsweise den tiefen Respekt der Menschen eroberte Modric nicht nur, weil ihm das Spiel gehörte, sondern weil er gegen Neapel inklusive Nachspielzeit 100 Minuten lang jedem Ball nachjagte. Als wäre er nicht 40 Jahre alt, als hätte er sich nicht längst einen Platz auf einem Liegestuhl verdient oder zumindest auf der Bank, in solchen umkämpften Phasen von Partien.
„Man muss verstehen, dass Luka in seiner Lebens- und Arbeitsweise völlig anders ist als andere“, sagte der ehemalige Nationalmannschaftskollege Ivan Rakitic vor einigen Tagen im Gespräch mit der Gazzetta dello Sport: „Der Fußball ist heute jünger als früher, aber er gibt denen, die sehr gut arbeiten – und nur denen, die sehr gut arbeiten –, die Möglichkeit, ihre Karriere zu verlängern.“
Modric lebt diese Tatsache konsequenter vor als die meisten anderen. Er ist ein weiteres Aushängeschild einer Generation, die nicht aufhören will, die Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen vom Fußball gegeben wurden. Wie Süchtige im besten Sinne. Was die Anzahl der Torbeteiligungen angeht, die am einfachsten zu messenden Werte im Fußball, wird Modric nie mit Cristiano Ronaldo und Lionel Messi mithalten können. Was die Arbeitsweise, den Willen und die Hingabe angeht, steht er beiden in nichts nach, als einer der großen Charaktere des Weltfußballs.
Mit beiden verbindet ihn allerdings auch ein Verständnis dafür, über den Vereinsfußball hinauszublicken. Modric ist bei Real Madrid eine Vereinsikone, er hat sich in Italien in Rekordzeit einen beachtlichen Ruf erarbeitet, doch in Wahrheit zählt für ihn der Erfolg mit seiner Nationalmannschaft: In Kroatien ist er längst der Größte, aber man schreibt mindestens seit der EM 2021 jedes Mal wieder davon, dass Modric jetzt doch bald seine Abschiedsvorstellung geben würde. Bei der WM in Katar war das der Fall, bei der tragisch beendeten EM in Deutschland im vergangenen Jahr, als man ihm kurzzeitig mal das Alter ansehen konnte, bevor er doch noch einmal Anführer wurde mit seinen tiefen Furchen im Gesicht. Immer wieder tanzte die Nationalmannschaft am Rande des Abgrunds und fiel doch nicht hinein. Weil Modric blieb, weil er es immer noch einmal probierte und es ihm immer wieder gelingt. Zuletzt in der bislang herausragenden WM-Qualifikation der Kroaten, die sich am Donnerstag gegen Tschechien fortsetzt, mit Modric in zentraler Rolle.
Einen Wunsch formulierte er letztens noch, nachdem er gegen Bologna den Siegtreffer erzielt hatte. „Erinnert mich vielleicht nicht in jedem Interview daran, wie alt ich bin“, sagte Modric. Er lachte über seinen eigenen Spruch, wie ein junger Mann.