
Ein interessanter Vorgang, ja wirklich super authentisch, wie die britische Sängerin Lola Young an diesem unscheinbaren Dienstagabend in der Kölner Live Music Hall ihren nächsten Song ankündigt. Bis sie tatsächlich dazu kommt („Er handelt von einem Ex“), sind mehrere Gedankenzüge unbegleitet ins Nichts gefahren. Es geht um ihr verlorenes Zeitgefühl; dass sie bei der Show gestern?, ja gestern! in Berlin nicht so richtig etwas zu sagen hatte für zwischendurch … bei ihr komme eh viel Mist raus, sie müsse vorher mehr nachdenken … „Fuck, I am doing it again“ … jedenfalls sei der Song schon etwas älter … eine komplett andere Perspektive … das neue Album längst fertig … auf Tour durchlebe sie dieses ekelhaft beschissene Gefühl wieder … aber „what I am trying to say“ … der Ex! Die affirmativen Worte an die ausverkaufte Halle gehen hingegen gut raus: „You are beautiful!“ Sie spricht mit britischem Akzent und so schnell, es ist wahrlich wunderschön: ein offiziell ADHS-diagnostiziertes Gen-Z-Gehirn bei der Arbeit.
Lola Young, diese maßlos talentierte junge Frau, ist im Südosten Londons aufgewachsen. An der renommierten BRIT School für darstellende Künste ausgebildet, veröffentlichte sie 2019 ihr erstes Minialbum, wurde 2022 für einen Brit Award nominiert und galt damals als eine gut polierte Mainstream-Künstlerin. Für den richtig großen Erfolg brauchte es jedoch eine neue Frisur und, weil es heutzutage eben so läuft, einen Hit auf TikTok. Zunächst 2023 mit dem Titel Don’t Hate Me, wobei sich der Hype hauptsächlich auf zwei Zeilen fokussierte, die sich nur unter Verlust des Witzes übersetzen lassen, aber sie pöbelt darin jemanden sehr Langweiliges an, der ihr vorwirft, langweilig zu sein, was viele reichweitenstarke Menschen lustig fanden. Der zweite, weiterhin andauernde TikTok-Hit ist ihr Song Messy über das ständige Chaos in ihrem Kopf und allen Bereichen des Lebens. Und obwohl er auf ihrem neuesten Album mit dem anmerkungslos guten Titel This Wasn’t Meant For You Anyway platziert ist, dudelt er dermaßen anschlussfähig überall, wo es Internet gibt, und ist mittlerweile zur ADHS-Hymne einer Generation geworden. Und aller, die sich mitgemeint fühlen.
Es ist ja gerade in Mode, neurodivers zu sein oder sich zumindest so zu fühlen. Im Kölner Publikum – es ist älter als erwartet und sicher mit fest abbuchenden Sparplänen versorgt – herrschen indes eher geordnete Verhältnisse. Aggressiv auffällig sind nur die vielen Kurz-Ponys; diese mittlerweile hochpolitische Frisur, von der linke Frauen im Internet behaupten, sie sei die effektivste Abschreckung vor männlichen Avancen, und rechte Männer, dass ihre Trägerinnen sich grundsätzlich und von allem verletzt und angegriffen fühlen. Für Lola Young sei der Kurz-Pony mit angeschlossenem Vokuhila, ebenjene neue Frisur, hingegen ein „massiver Selbstbewusstseinsschub“ gewesen. Die konventionellen, mainstreammäßigen Popstrukturen ihrer früheren Veröffentlichungen ersetzte sie daraufhin durch eine eher unvorhersehbare Mischung aus britischen Sounds der vergangenen 30 Jahre: ein paar wilde Moshpit-Momente von Arctic Monkeys, etwas Weltschmerz von Florence + the Machine und gelegentliche Hip-Hop-Elemente.
Sie ist bei den ehemaligen Managern von Adele und Amy Winehouse unter Vertrag und wird als deren Nachfolgerin gehandelt, was das Abgerockte und Stimmgewaltige betreffend nicht unpassend ist, jedoch vieles außergewöhnlich Eigene vernachlässigt. Auf der Bühne bietet Lola Young ihre Texte erzählerisch bis komödiantisch dar, mit einer Mischung aus gesprochenem Wort und Gesang. Es geht oftmals um längst geführte Beziehungsgespräche und die Dinge, die besser hätten gesagt werden sollen. Sie ist dabei gleichermaßen unverschämt forsch, „Du musstest mir nicht ins Gesicht schreien, als du dein dummes, kleines Auto geparkt hast“, und verunsichert suchend, „Ich will nur deine oberste Priorität sein“. Ihre vermeintlich unzuverlässige Stimme kratzt und bricht gelegentlich, nur um dann, sobald es drauf ankommt, so langanhaltend klar und voll die Töne hinauszujaulen, bis das Publikum fassungslos und dem Weinen nicht mehr abgeneigt dasteht.
Sie trägt an diesem Abend ein T-Shirt mit der Aufschrift „TO SEXY TO SPELL“. Das ist so der Humor; die Referenzen ihrer Kunst stammen hauptsächlich aus den 2000er-Jahren, dem Sehnsuchtsort der Gen-Z-Nostalgie. In dem Song Messy singt sie beispielsweise, dass sie jede zweite Woche einen „Britney abzieht“, also einen kompletten Vollzusammenbruch hat wie Britney Spears, als die sich 2007 den Schädel rasierte. Und natürlich warten in der Live Music Hall alle nur auf diesen einen Song und darauf, dass er sie in dem Gefühl, missverstanden zu werden und sich selbst nicht zu verstehen, abholt. Lola Young spielt ihn, unangepasst wie sie ist, erst am Ende der Zugabe. Gilt das schon als Therapie? Möglicherweise läuft es auch unter Selbstfürsorge. Jedenfalls ist nach nur knapp einer Stunde das Konzert vorbei; die Aufmerksamkeitsspanne auch.