
Eine junge Frau in einem fliederfarbenen Hoodie: So sitzt sie nun da, Loïs Boisson, anderthalb Stunden nach dem bislang größten Spiel ihrer Karriere. Nach einer der größten Überraschungen, die der Tennissport in seiner jüngeren Geschichte erlebt hat.
Vor Boisson drängt sich eine Hundertschaft von Journalistinnen und Journalisten. Wahrscheinlich hat kein einziger von ihnen vor zwei Wochen auch nur den Namen der jungen Französin gekannt. Aber nun steht Boisson im Halbfinale der French Open, einem der wichtigsten Tennisturniere der Welt. In zwei spektakulären Sätzen hat sie gegen die Russin Mirra Andrejewa gewonnen, 7–6, 6–4. Und weil das für fast alle überraschend kommt, fragt eine französische Reporterin vorsichtshalber noch einmal nach: Ob man Loïs mit einem einfachen Punkt oder einem Trema über dem „i“ schreibe. Boisson lächelt: mit Trema. Loïs.
Seit diesem Tag kennt ihren Namen aber ohnehin nun jede und jeder. Zu gut ist ihre Geschichte. Sie klettert in der Weltrangliste schon jetzt mindestens um fast 300 Plätze und wird nach dem Turnier die beste Französin sein. Sie überholt dabei 23 Landsfrauen. Bisher hat sie in ihrer gesamten Karriere 148.000 Euro verdient, nun sind ihr schon 690.000 Euro auf einen Schlag sicher. „Sie hat sich ein neues Leben erspielt“, sagte Boris Becker bei Eurosport.
Loïs Boisson spielt in Paris ihr erstes Grand-Slam-Turnier. Dass sie überhaupt antreten konnte, verdankt sie einer Wildcard, einer Art Freilos, mit der die französischen Veranstalter sie bedacht hatten. Boisson ist zwar schon 22, das ist für eine Debütantin gar nicht mehr so jung. Aber in der Weltrangliste stand sie bislang im Niemandsland weit abgeschlagen auf Rang 361. Sie war früh und oft verletzt. Erst im vergangenen Jahr war ihr kurz vor den French Open das Kreuzband gerissen.
Doch es scheint so, als wolle Boisson in diesen zwei Turnierwochen alles nachholen, was sie in ihrer Karriere bislang verpasst hat. Und dabei schaut man ihr unglaublich gerne zu. Schon dass sie vor drei Tagen im Achtelfinale stand, war eine große Überraschung. Dort hatte sie Jessica Pegula geschlagen. Die US-Amerikanerin war an Nummer 3 gesetzt, als eine der Topspielerinnen. Den ersten Satz hatte Pegula gewonnen, es schien, als würden die Dinge ihren gewohnten Lauf gehen. Im Tennis der Frauen spielen die Top 10 in einer eigenen Liga. Doch dann drehte Boisson das Spiel. Seitdem trägt sie die Sehnsucht eines Landes. Oder besser: des Teils des Landes, der sich für Tennis interessiert. Und die Sehnsucht trägt sie.
Die French Open sind eines der vier wichtigsten Tennisturniere. In Frankreich gehören sie zum nationalen Kulturerbe. Das öffentliche französische Fernsehen überträgt zwei Wochen lang fast alle Spiele, manchmal auf mehreren Sendern gleichzeitig. Doch da ist diese eine Sache. Die letzte Französin, die das Turnier gewonnen hat, war Mary Pierce. Das war vor einem Vierteljahrhundert. Der letzte französische Sieger liegt noch weitere Generationen an Tennisspielern zurück. Yannick Noah hatte 1983 in Roland Garros, so der Name der Anlage, triumphiert. Seitdem hofft und bangt und verzweifelt Tennis-Frankreich, jedes Jahr aufs Neue.
Loïs Boisson kennt die Sehnsucht ihres Landes. Als sie sich an diesem Mittwoch mit ihrer Gegnerin, der Russin Mirra Andrejewa, einschlägt, stimmen einige Zuschauer die Marseillaise an. Als Boisson das erste Spiel gewinnt, mit einem fulminanten Aufschlag, tönen die ersten Sprechchöre durch die Arena. Als sie Andrejewa Mitte des ersten Satzes mit einem Break zum ersten Mal den Aufschlag abnimmt, wird der Lärm der 15.000 Zuschauerinnen und Zuschauer ohrenbetäubend. Das Dach über dem Center Court ist geschlossen und verstärkt den Effekt. Aber Boisson lässt sich nicht beeindrucken. Nicht von der Begeisterung und nicht von den Erwartungen, die steigen mit jedem Spiel, das sie gewinnt.