
Vom damaligen AfD-Chef Alexander Gauland stammt der auf die Unionskanzlerin Angela Merkel gemünzte Spruch: „Wir werden sie jagen.“ In Bezug auf Unionskanzler Friedrich Merz scheint Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek der Losung zu folgen: „Wir werden ihn zum Jagen tragen.“ Als die CSU ankündigte, Reichinnek nicht in das Parlamentarische Kontrollgremium für die Geheimdienste zu wählen, drohte Reichinnek: „Sollte das nicht geschehen, müsste man sich Gedanken machen über die weitere Zusammenarbeit.“
Moment: Die Linke droht der Union mit einer Beendigung der Zusammenarbeit? Ist es nicht vielmehr so, dass die Union nicht mit der Linken zusammenarbeiten will? Hat doch die CDU auf ihrem 31. Parteitag am 8. Dezember 2018 in Hamburg „Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland“ kategorisch ausgeschlossen.
Realpolitische Biegsamkeit
Und in einer Stellungnahme 2020 – nachdem es in Thüringen bei der Wahl des FDP-Manns Thomas Kemmerich erstmals zu einer faktischen Zusammenarbeit der Union mit der AfD gekommen war – betonte die CDU erneut: „Für Präsidium, Parteivorstand und die übergroße Mehrheit unserer 400.000 Mitglieder steht unverrückbar fest: Eine Zusammenarbeit mit Linkspartei oder AfD wäre nicht nur ein Angriff auf unsere Identität und ein Verrat an unseren christdemokratischen Werten. Sie würde auch unser wichtigstes Gut beschädigen: Unsere Verlässlichkeit und unsere Glaubwürdigkeit.“
Nun gut: Identität und Werte, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit sind schöne Phrasen, die selten den Konflikt mit der politischen Realität überdauern. Und der Parteitagsbeschluss gegen „Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit“ ließ ja ein Schlupfloch für nicht koalitionsähnliche Formen der Zusammenarbeit offen. Und das wurde schon genutzt, leider in beide Richtungen.
Friedrich Merz, der von seiner Gegenspielerin Angela Merkel die Kunst realpolitischer Biegsamkeit gelernt hat, drückte im Januar einen Antrag für eine schärfere Asyl- und Migrationspolitik mit FDP und AfD gegen die rot-grüne Minderheitsregierung durch. Dass sein Gesetzentwurf tags darauf bei der zweiten Lesung scheiterte, war ein Sieg der liberalen Demokratie, konnte aber den Tabubruch nicht aus der Welt schaffen.
Das Dilemma der Union
Der gleiche Friedrich Merz ließ sich nur drei Monate später, nachdem er – auch das ein Novum – am 6. Mai bei der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang gescheitert war, faktisch von der Linkspartei retten. Um eine Staatskrise abzuwenden, erbettelte CSU-Mann Alexander Dobrindt die Zustimmung der Linken für einen zweiten Wahlgang noch am selben Tag.
Freilich offenbart das Hin und Her ein echtes Dilemma der Union: Will sie die Brandmauer zur AfD halbwegs aufrechterhalten – oder besser: nach dem Tabubruch vom 30. Januar wieder aufrichten –, ist sie im Bundestag in einigen Fällen auf die Stimmen der Linkspartei angewiesen. Das passt wiederum sehr gut ins Narrativ der AfD von den vermeintlichen „Systemparteien“, die gemeinsam den angeblichen Volkswillen nach Systemveränderung blockierten.
An der Basis, besonders in Ostdeutschland, wo die Union keine alteingesessene Milieupartei ist, bröckelt die Ausgrenzung der AfD längst. Im sächsischen Meißen etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, unterstützte die CDU den von der AfD betriebenen Entzug der Fördergelder für den Verein Buntes Meißen. Federführend war dabei der Ex-NPD-Mann und frühere Chef des Vereins zur germanischen Brauchtumspflege Schwarze Sonne Meißen e. V. René Jurisch, den die AfD als Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl im September aufgestellt hat.
Staatspolitische Verantwortung der Linken
Den AfD-Vorstoß gegen Buntes Meißen flankierte die CDU-Landtagsabgeordnete Daniela Kuge mit einer Anfrage im Landtag. „Wenn du jetzt noch in der richtigen Partei wärest …“, seufzte der dankbare Jurisch auf X, woraufhin Bianca Wunderwald, Chefin des CDU-Kreisverbands Meißen erwiderte: „Ist sie doch.“ Kuge dazu: „Hab euch beide lieb.“ Jurisch: „Wir dich doch auch.“
Ein derartiges schwarz-blaues Liebesfest ist vielleicht nicht typisch, aber auch kein Einzelfall. Insofern ist es bemerkenswert, dass sich auch im Verhältnis zur Linken etwas bewegt. Der sächsische Landtag stimmte am Montag dem Haushalt zu – mit den Stimmen der Grünen und der Linken, auf die Sachsens Minderheitsregierung aus CDU und SPD angewiesen ist.
Eine durchaus „koalitionsähnliche Form“ der Zusammenarbeit, die auch mit konkreten Zusagen an die Linke bezüglich der Verwendung künftiger Zuwendungen des Bundes erkauft wurde. „Die Linken haben staatspolitische Verantwortung gezeigt“, sagte der sächsische CDU-Fraktionsvorsitzende Christian Hartmann der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Wie es aussieht, wird die Linke auch im Bundestag mit Blick auf die Kontrollkommission staatspolitische Verantwortung – und realpolitischen Machtinstinkt – beweisen. Nachdem Reichinnek bei der Wahl durchgefallen war, ließ die Bundesvorsitzende der Partei, Ines Schwerdtner, durchblicken, dass die Linke eventuell eine andere Personalie vorschlagen könnte.
Die Linke ist nicht appetitlicher geworden
Tatsächlich ist es fraglich, ob Reichinnek, die noch vor zehn Jahren dafür plädierte, mit Islamisten Bündnisse zu bilden und „auf Augenhöhe“ zu reden, wirklich die richtige Person ist, um die Arbeit von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz zu kontrollieren.
Ein Kompromiss in dieser Frage wäre aber auch deshalb vernünftig, weil das Parlament bis Ende September drei Richterposten am Bundesverfassungsgericht besetzen muss. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit ist – wenn die Brandmauer zur AfD halten soll – nur mit der Linkspartei zu erreichen, die im Gegenzug ein Vorschlagsrecht verlangt. Eine entsprechende Abmachung – man könnte auch sagen: Kuhhandel – hätte dann ebenfalls „koalitionsähnlichen Charakter“, wie es der Unvereinbarkeitsbeschluss eigentlich untersagt.
Machen wir es kurz: Sachsen weist den Weg. Der Unvereinbarkeitsbeschluss von 2018, der schon in Thüringen zu der absurden Situation geführt hat, dass die CDU außer mit der SPD lieber mit dem russlandfreundlichen und sozial-nationalen BSW koaliert als mit der von Bodo Ramelow halbwegs gezähmten Linkspartei, muss revidiert werden. Übrigens konnte auch in Thüringen der Haushalt der Brombeerkoalition nur mithilfe der Linkspartei verabschiedet werden.
Es ist nicht so, dass die Linkspartei insgesamt seit 2018 appetitlicher geworden wäre. Im Gegenteil. Nach dem unerwarteten Erfolg bei der letzten Bundeswahl ist die Versuchung stark, sich als Fundamentalopposition zu gerieren. Fürchtet die Union, ihre Glaubwürdigkeit in den Augen von Menschen zu verlieren, die so ticken wie Kuge und Wunderland in Meißen, wenn sie punktuell mit der Linkspartei kooperiert, so fürchtet die Linkspartei um ihre neu gewonnene Street Credibility und die Sympathien ihrer neuen Mitglieder, wenn sie allzu viel staatspolitische Verantwortung an den Tag legt. Die vorsichtige Annäherung ist also riskant, für beide Seiten, aber sie ist es wert.
Denn die größte Gefahr für die Demokratie kommt heute von rechts, von der AfD. Sie könnte freilich, wie die Dinge stehen, nur über eine Koalition mit der Union eine reale Machtoption entfalten. Es mag Individuen und Gruppen in der Union geben, die mit solchen Perspektiven liebäugeln; und Friedrich Merz selbst hat die Prinzipienlosigkeit in den Rang einer Leitkultur erhoben. Im Interesse der Zähmung der schlimmsten Instinkte beider Parteien – und damit im Interesse der Demokratie – muss der Unvereinbarkeitsbeschluss der Union fallen.
Transparenzhinweis: In einer ersten Fassung dieses Textes stand, die von Merz beantragte Abstimmung zur sogenannten Asylwende habe am 30. Januar 2025 stattgefunden, also am Jahrestag von Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Jahr 1933. Das ist falsch. Die Abstimmung fand am 29. Januar statt. Wir haben die Passage korrigiert und bitten den Fehler zu entschuldigen.