
Es war die schlechteste aller möglichen Ausreden, die der Showrunner Allan Heinberg vortrug, um zu erklären, warum die erfolgreiche Serie „The Sandman“ nach nur zwei Staffeln abgesetzt werden würde: Man habe das übrige Material gesichtet und befand: Über die Titelfigur Dream, den Herrn der Träume (der auch unter den Namen Sandman, Morpheus oder Oneiros auftaucht), gebe es nichts mehr zu erzählen. Trotz 3000 Seiten der berühmten Graphic-Novel-Vorlage des britischen Bestsellerautors Neil Gaiman würde es also bei 23 Folgen bleiben.
Der eigentliche Grund für die Absetzung des prestigereichen Projekts wird ein anderer sein: Anfang Januar wurde im „New York Magazine“ eine ausgiebige Recherche über Gaiman veröffentlicht, die auf einen Podcast namens „Master“ zurückgeht. Darin beschuldigen fünf Frauen Gaiman sexueller Übergriffe, zwei davon bezichtigen ihn der Vergewaltigung. Gaiman beteuert, dass die Begegnungen einvernehmlich gewesen seien. Ein Gerichtsverfahren und eine Zivilklage stehen seither aus. Neben „The Sandman“ wurden auch andere aktuelle Produktionen von Gaiman-Werken eingestellt („Dead Boy Detectives“ für Netflix, „The Graveyard Book“ für Disney) oder eingekürzt („Good Omens“ für Prime Video), und mehrere Verlage haben sich von neuen Projekten mit ihm zurückgezogen.
Gaimans erfolgreichste Graphic Novel
Seit den Achtzigerjahren hatte der heute 64-Jährige unzählige Graphic Novels, Romane, Dreh- und Kinderbücher geschrieben; viele davon wurden für Film und Serie adaptiert. Während „Good Omens“ (mit Terry Pratchett), „American Gods“, „Sternwanderer“ und „Coraline“ zu erfolgreichen Adaptionen wurden, sollte ausgerechnet „Sandman“, seine erfolgreichste Graphic Novel, lange nicht verfilmt werden. Jedes Projekt versandete, bis 2019 Netflix den Zuschlag erhielt. Die Graphic Novel handelt vom titelgebenden Sandman, der über das Reich der Träume herrscht, „in dem Geschichten gesponnen“ werden. Als nach dem Horror des Ersten Weltkrieges ein Okulist versucht, den Tod zu fangen, setzt er an dessen Stelle Morpheus fest. Nach Jahrzehnten entkommt der Traumkönig, findet aber sein Reich in Trümmern: Er muss seine Regalien wiederfinden, seinen Helm und seinen Rubin, die ihm besondere Kräfte verleihen, muss entflohene Alpträume einfangen und die Ordnung zwischen der Welt der Wachen und der Träumenden wiederherstellen.
Er nannte sich selbst „Feminist“
Als „The Sandman“ 1989 als neuer DC-Held erschien, öffnete er die Comic-Gattung einer neuen Leserschaft: Als komplexe, mythische Erzählwelt, die sich aus der Weltliteratur wie der Popwelt speist, wurde die Graphic Novel durch den Schriftsteller Norman Mailer als „Comic für Intellektuelle“ geadelt und so zur ernsthaften Literatur erhoben, wie es bis dahin nur „Maus“ und „Watchmen“ geschafft hatten. 75 Hefte erschienen in zehn Bänden unter dem DC-Imprint Vertigo, und Gaiman beendete die Comicreihe 1996, weil er fand, dass die Geschichte seines Helden Morpheus zu Ende erzählt sei. „The Sandman“ entzog sich so dem Comic als klassischem Jungsgenre und erzählte nicht nur erwachsene, sondern für seine Zeit ungewöhnlich progressive Geschichten: Weibliche, schwarze, trans oder nonbinäre Figuren gestaltete Gaiman als zentrale Charaktere, die weder klischiert noch moralisch gezeichnet wurden. Gaiman wurde zu einer Ausnahmeerscheinung: ein Fantasyautor als Feminist – ein Titel, den er mit Betonung trug.

Die neu erschlossene Leserschaft bestand so vor allem aus Leserinnen. Eine Anekdote, die Gaiman einmal erzählte, steht exemplarisch dafür, was das für die Comicwelt bedeutete: Bei einer Convention habe ein Comicbuchladenbesitzer ihm gedankt, dass seinetwegen nun Frauen bei ihm einkauften. Gaiman als Comicautor wurde zum Rockstar seines Metiers, mit all den problematischen Machtgefällen, die das mit sich bringt. Dass Gaiman mit zerzaustem Haar und schmalem Gesicht dem Sandman phänotypisch nicht unähnlich sah, tat sein Übriges.
Sex mit viel jüngeren Fans, die ihn „Meister“ nennen sollten
In Comickreisen, so die „New York Magazine“-Recherche, war es kein Geheimnis, dass Gaiman immer wieder mit sehr viel jüngeren Fans Sex hatte. Dass er sich dieses Machtverhältnisses mehr als bewusst gewesen sein dürfte, wird auch darin deutlich, dass einige Frauen erklärten, er hätte darauf bestanden, dass sie ihn „Master“ nennen. Gaiman reagierte in einem Statement im Januar, indem er schrieb, dass er „nicht perfekt“ und allzu „achtlos mit den Herzen und Gefühlen anderer“ umgegangen sei.

Bemerkenswert ist dabei, wie präzise Gaiman den rücksichtslosen Umgang mit Frauen in „The Sandman“ beschrieben hat. Die Leiden seiner Figuren sind konkret, die dargestellte Gewalt oft pervers, und auch wenn es einen Helden gibt, gibt es oft genug keine Rettung. Nach den Anschuldigungen wurde von seiner Leserschaft oft das Heft 17, „Kalliope“, zitiert: Hier schenkt ein gealterter Autor einem jüngeren namens Richard Murdoc eine der neun Musen. Er vergewaltigt sie über Jahre, um inspiriert zu werden, und wird in der Literaturwelt geehrt und gefeiert.
Verstörende Parallele zwischen Fiktion und Realität
Dass ausgerechnet dieses Heft zur Special-Folge für die erste Staffel wurde, wirkt nun etwas verstörend: So erzählt Kalliope, wie sie ein Bad nahm und der Autor ihr befahl, sie solle ihn fortan „Meister“ nennen – eine Szene, die ähnlich auch in der Recherche auftaucht. Der Erfolg des Serien-Murdoc wird mit dem Gaimans parallelisiert („Jedes große Studio will etwas von ihm, Film, Fernsehen, Streaming“; „Sein Werk übersteigt Genres!“, „Unterhaltungsliteratur gewinnt nun ernsthafte Preise!“). Auf einer Party bekundet Murdoc: „Ich verstehe mich durchaus als feministischen Schriftsteller.“

Gaiman war stark involviert im kreativen Prozess der Serie und hat den Stoff mitentwickelt; sowohl bei den Dialogen als auch bei der Auswahl der Darsteller soll er das letzte Wort gehabt haben. Der britische Schauspieler Tom Sturridge als Herr der Träume ist wesentlich hübscher als die Comicversion, und dass er eher wie ein Indierocker der Nullerjahre aussieht als ein Rockstar der Achtziger, zeigt, dass hier eine neue Generation progressiver Millennials angesprochen werden soll.
Feministische Ansätze wie pflichtschuldige Reue
Der Ton der zweiten Staffel ist dabei auffällig mild: Während der „Sandman“ in der ersten Staffel noch mit charismatisch-brutalen Antagonisten wie dem Albtraum Korinther (Boyd Holbrook) und Bösewicht Dr. Dee (David Thewlis) zu tun hatte (beide Charaktere wurden für die Adaption ausgebaut), wurde nun jeglicher Horror gestrichen. Stattdessen werden allzu viele Gefühlsüberlegungen über Dialoge vermittelt, die unverständlicherweise über endlose Halbnahaufnamen inszeniert werden, statt sich an der vielschichtigen Erzählweise von Comicpanels zu orientieren. Damit wird die langsame Entwicklung der Vorlage vom Horrorcomic zur elaborierten Fantasygeschichte brachial eingedampft, Morpheus als Figur vom Katalysator zum Protagonisten.

Und Dreams feministische Ansätze wirken nicht mehr bahnbrechend, sondern nur noch wie pflichtschuldige Reue: Er will nun Sühne leisten bei seiner ersten Liebe, der „ersten Frau“ Nada (Deborah Oyelade), die er über Zehntausende Jahre in die Hölle sperren ließ, weil sie ihn verschmäht hatte. Er will seiner kleinen Schwester Delirium (einnehmend gespielt von Esmé Creed-Miles) helfen, ihren Bruder Destruction zu finden, um die dysfunktionalen Geschwister (weitere anthropomorphe Alliterationen Destiny, Death, Desperation und Desire) zusammenzubringen. Und er will sich seinem Sohn Orpheus stellen, den er einst im Stich gelassen hat.
Die Figuren wollen ihre Verantwortung loswerden
Das andere große Dilemma, das diese finale Staffel überbaut, sind die Sinnkrisen der allmächtigen Wesen. Ob gut oder böse, sie wollen ihre Verantwortungen loswerden. Da ist Morpheus’ Erzfeind Lucifer Morningstar (wieder phantastisch besetzt mit der androgynen Gwendoline Christie), der sein Gesuch in der Hölle gleich nutzt, um sich selbst daraus zu befreien (den Ruhestand verbringt sie auf einem Klappstuhl an einem englischen Kiesstrand). Und besagter Bruder Destruction (Barry Sloane), der sich angesichts der noch viel größeren Unvernunft, die mit dem Zeitalter der Vernunft einherging („sie haben das Atom entdeckt“), schon vor 300 Jahren verabschiedet hat. Als Delirium und Dream ihn dann doch finden (in einer sonnigen Inselvilla mit Meerblick), erklärt er, warum er sein Reich verlassen hat und es auch kein Zurück gibt: Die Dinge zerstörten sich schließlich auch ohne ihn, die Schuld aber muss er dafür nicht mehr auf sich nehmen. Er weiß aber: „Entweder veränderst du dich, oder du stirbst.“ Es ist eine vorgezogene Lehre des „Sandman“, die man noch so viel länger hätte erzählen können: wie Morpheus erkennt, dass es nicht lohnt, gottgleich zu sein, dass nur, wer sich fehlbar weiß, wer sich menschlich zeigt, in einer von Ungerechtigkeit beherrschten Welt etwas gerechter werden kann.
Wie geht es mit dem Sandmann weiter?
Dass der Sandman vorerst wieder auf die Buchseiten gebannt wird, ist sicher bedauernswert für all diejenigen, die auf eine elaborierte Endlosserie gehofft haben. Wie der Fall Gaimans dessen weiteres Schaffen beeinflussen wird, wird sich zeigen.
Wenn die Produktionen eingestellt bleiben, könnte es ihm wie Richard Murdoc ergehen: Zur Strafe überschüttet der Sandman ihn mit unendlich vielen Einfällen, so vielen, dass er nicht in der Lage ist, sie in die Welt zu tragen.